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Geheimnisse eines Grabreliefs

Am Sonntag ist Tag des offenen Denkmals. Zum Motto „Kulturspur“ passt eine Entdeckung auf dem Friedhof Dresden-Striesen.

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Familiengrab Ehnthold auf dem Friedhof Dresden-Striesen
Familiengrab Ehnthold auf dem Friedhof Dresden-Striesen © Dr. Jörg Blobelt

Von Andreas Dehmer

Das Grabmal der Familie Ehntholt ist überaus faszinierend, zumal es einige Widersprüche in sich birgt. Die angebrachten Inschriften benennen drei dort bestattete Personen: Johann Heinrich Ehntholt (16. 6. 1813 bis 27. 1. 1901), eine um einiges jüngere Maria Ehntholt, geb. Carl (9. 3. 1830 bis 13. 10. 1863) sowie, aus der nächsten Generation, Hans Maria Carl Ehntholt (10. 10. 1865 bis 27. 2. 1907). Betrachtet man das Motiv des wunderbar erhaltenen weißen Marmorreliefs, kommen erste Fragen auf: Dargestellt ist der Tod einer liegenden jungen Frau, deren Oberkörper von einem Engel halb aufgerichtet wird. Das am oberen Ende der Liegestatt sitzende Flügelwesen hält in seiner rechten Hand eine Leier, mit der linken das Ende eines gerafften Tuchs, in das der Leichnam schon zur Hälfte eingehüllt ist. Am rechten Rand der Szene aber wenden sich ein weiterer Engel sowie eine weibliche Gewandfigur von der Verstorbenen ab. Sie tragen ein offenbar neugeborenes Kind aus dem fiktiven Raum.

Der Tod zerstörte das Familienglück

Wie könnte man das mit den drei Namen des Grabmals in Einklang bringen? Die These lautet: Maria war die junge Gattin des Johann Heinrich Ehntholt, eines Bremer Bürgers, der in der fraglichen Zeit offenbar ein durchaus vermögender Brauereimitbesitzer war .. Ab 1880 wurde er als Rentier in Dresden wohnhaft, nahe dem Großen Garten, ab 1897 ist er in Loschwitz nachweisbar. Weitere Recherchen ergaben, dass der andere männliche Familienangehörige Hans Maria Carl zwar 1907 gestorben ist, allerdings nicht 1865 das Licht der Welt erblickt hat, sondern 1863 – und zwar am 10. Oktober, somit genau drei Tage nach dem traurigen Ende der gerade einmal 33-jährigen Maria Ehntholt. Er war also der einzige Sohn des Ehepaars, infolge von dessen Geburt kurz darauf der Tod das Familienglück wieder zerstörte. Maria starb wohl im Kindbett.

Was geschah dann? Der Witwer gab in Bremen einen standesgemäß repräsentativen figürlichen Grabschmuck in Auftrag, der die entscheidende Szene in ewiger Erinnerung bewahren sollte. Wie das vor sich ging und an wen die Aufgabe übertragen wurde, darüber gibt es keine schriftlichen Quellen. Auch eine Signatur ist nicht zu entdecken. Dennoch lässt es sich zweifelsfrei erschließen.

Die Spuren weisen nach Süden

Geht man einmal von dem Artefakt selbst aus, erkennt man schnell, dass es kein Werk eines sächsischen Künstlers ist. Es unterscheidet sich deutlich von der damals hoch gehandelten, so genannten Dresdner Bildhauerschule. Weder Ernst Rietschel noch Ernst Julius Hähnel geschweige denn deren Schüler hatten hier ihre Meißel im Spiel. Vielmehr verweisen sowohl einzelne Bildelemente als auch die allgemeine Stilistik um einiges weiter nach Süden, nämlich in das Umfeld eines damals noch berühmteren Bildhauers aus Dänemark, der in Rom auf den Spuren der Antike wandelte. Der hieß Berthel Thorvaldsen, ein führender Vertreter des Klassizismus sowie einflussreicher Netzwerker für nordische Künstler und Sammler in der Ewigen Stadt. Thorvaldsens Inventionen und Formensprache hallen deutlich im Dresdner Grabrelief wider.

Dass dieses Werk aber auch gar nicht in Dresden entstanden sein muss, ergibt sich aus dem Umstand, dass das Grabmal auf dem Striesener Friedhof keinesfalls unmittelbar nach dem Tod Maria Ehntholts errichtet worden sein konnte. Der Friedhof wurde erst 1883 in Betrieb genommen; hingegen ist das Grabrelief etwa zwanzig Jahre früher entstanden. Der Verdacht erhärtet sich unmittelbar, wenn man liest, dass Maria Ehntholt am 13. Oktober 1863 in Bremen gestorben ist. Erst im November 1901 wurden die sterblichen Überreste Maria Ehntholts – zusammen mit jenen ihres Gatten – am heutigen Ort bestattet.

Waren diese Faktoren definiert, ließ sich das Suchfeld stark eingrenzen: Zu finden blieb ein versierter Bildhauer mit Verbindungen sowohl in die Hansestadt als auch nach Rom – und da kam dann aus jener Zeit eigentlich nur einer infrage: Carl Johann Steinhäuser (1813 – 1879), in jungen Jahren Schüler von Christian Daniel Rauch in Berlin und ab 1835 schon in Rom, wo er schnell in den Bannkreis Thorvaldsens, später auch der Nazarener geriet.

Diesem relativ bekannten, damals aber durchaus angesehenen Künstler wurde 2004 eine kleine Monografie gewidmet, u.a. mit dem Ziel, alle seine Werke, erhaltene und verlorene, zu erfassen. Und dort liest man unter der Verzeichnisnummer 50, zitiert aus einer zeitgenössischen Quelle: „Grabmal für Marie Entholt. Marmorrelief. Verstorbene von zwei Engeln gestützt; im Hintergrund Frau mit einem Kind auf dem Arm. Rom, 1865, signiert.“ Helke Kammerer-Grothaus, die Autorin der Monografie, fügte hinzu: „Standort nicht zu ermitteln, wahrscheinlich verloren.“Diese Aussage kann nun revidiert werden. Es handelt sich zweifelsfrei um ein und dasselbe Werk – auch wenn heute keine Inschriften mehr an ihm zu finden sind. Steinhäuser, 1865 mittlerweile Professor in Karlsruhe, mit dem Recht auf regelmäßige Arbeitsaufenthalte an seiner alten Wirkstätte, hatte es zwei Jahre nach dem Tod der Maria Ehntholt in Rom vollendet. Der Trauerengel im linken Vordergrund steht in enger Beziehung zu der 1860 von ihm geschaffenen Marmorfigur „Mignon“ in der Kunsthalle Bremen.

Steinhäuser wurde im Alter ein Meister der Synthese klassizistischer Formen mit romantisch-nazarenischer Gestimmtheit. 1848 war er zum katholischen Glauben konvertiert. Religiöse Inhalte verband er in eigener, schönliniger Manier mit dem edlen Geist der Antike. Der Dresdner „Marientod“ aus Bremen ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür. Die Friedhofsverwaltung Striesen vergibt eine Patenschaft für dieses prachtvolle Denkmal.

Führung über den Striesener Friedhof am Sonntag, 14 Uhr mit Heike Hofmann, Verwaltungsleiterin

www.tag-des-offenen-denkmals.de

Unser Autor

Andreas Dehmer ist Kunsthistoriker und Autor zahlreicher Veröffentlichungen über Malerei und Skulptur vom Mittelalter bis zur Moderne, insbesondere aus der Zeit um 1900. Er forschte zu den bedeutendsten Grabfiguren auf Dresdens Friedhöfen. Seit 2006 arbeitet er an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, seit 2008 im Dresdner Albertinum.