Herkuleskeule ist verliebt in die Raute

Von Rainer Kasselt
Drei vergessene Gestalten an der Bahnsteigkante. Dörte, die arbeitslose Backwarenfachverkäuferin. Walentin, der vertröstete Doktor in spe. Fridolin, ein sächsischer Sargtischler. Der Zug, auf den sie warten, ist für sie längst abgefahren. Sie warten trotzdem und hoffen auf ein bisschen Glück. Neben dem abgehängten Bahnhof kracht und sprengt es laut. Chinesen errichten ein Hightechwerk. Die drei Glückssucher kommentieren den Bau, kommen sich dabei näher, erzählen ihre Geschichten. Es sind Geschichten von der Kraft, dem Mut und den Ängsten der Schwachen.
Willkommen im neuen Programm des Dresdner Kabaretts Die Herkuleskeule. Die Premiere des Stücks „Tunnel in Sicht“ wurde am Donnerstag mit stehenden Ovationen gefeiert. Es ist die 52. (!) Keule-Produktion von Wolfgang Schaller – und wohl nicht die letzte. Auch sein neuester Streich spiegelt den scharfen Riss wider, der die Gesellschaft spaltet. Die Texte kritisch, klug und dialektisch, die Pointen witzig. Der skeptische Moralist und entschiedene Pazifist versteht sich als Aufklärer. „Besser als Rechtsstaat wäre Gerechtsstaat.“

Das Stück, von Matthias Nagatis inszeniert, ist glänzend besetzt. Birgit Schaller, auf dem Programmzettel als „sächsische Nachtigall“ geführt, ist Dörte, die am liebsten Schweinsohren verschenkt. Eine Frau, die gern und viel lacht und von einem Auftritt im Fernsehen als „Superstarin“ träumt. Ein hinreißender Hit ist ihr geschluchztes Abschiedslied für Angela Merkel. Sie singt es mit Hut und Trenchcoat. Verbeugung vor Marlene Dietrich, die die deutsche Version des Brel-Chansons populär machte. „Wir werden die Kanzlerin noch vermissen“, meint Birgit Schaller. Und singt: „Was kommt nach dir? Nur eine Flaute. Ich bin verliebt in deine Raute.“
Ein Stück KZ fährt bei VW immer mit
Hannes Sell steckt als angehender Doktor mal den Besserwisser raus, mal den sportiven Sprüchesammler. Seine ungezählten Doktorarbeiten werden zum Running Gag. Die Zeitungszitate von Marx bis Brecht, die er umständlich aus einem Papierkorb fischt, haben es in sich. Mit Jean Paul meint er: Schon die Frage, ob einer Jude sei, „ist antisemitisch“. Das Kabarettstück erinnert daran, dass Volkswagen im Zweiten Weltkrieg KZ-Häftlinge für seine Produktion einsetzte. Hannes Sell tritt an die Rampe und fragt das Publikum: „Fahren Sie VW? Ein Stück KZ fährt immer mit.“ Großartig seine bissige Karl-Lauterbach-Parodie, stimmig in Ton und Geste.
Jürgen Stegmann, von den Landesbühnen Sachsen an die Keule gewechselt, spielt den schlitzohrigen Sargtischler Fridolin. Er wird von Programm zu Programm sicherer in seinen Mitteln, hat sängerisch enorm zugelegt. Seine Figur, nur echt mit Schiebermütze, strahlt Mutterwitz und Gelassenheit aus, verleugnet seine Vergangenheit in der „Ehemaligen“ nicht. Die Frau hat ihn verlassen, aber mit Dörte könnte sich was anbahnen. Gern betrachtet er die Fische im Aquarium. Einen mit Schmollmund nennt er Brigitte Bardot. Die Pandemie sieht er mit gemischten Gefühlen. „Einer Sargfirma geht es immer gut, wenn es anderen schlecht geht.“

Der knapp zweistündige Abend läuft etwas schwer an, dann kommen die ersten Lacher, werden immer mehr. Relevante Themen werden angesprochen: Neoliberalismus, Rassismus, Klimawandel, Verschwörungstheorien, Sorge vor einem Rechtsruck. Das Programm ist dramaturgisch durchdacht, gut ergänzt durch Lieder von „Schwarze Grütze“ oder Andreas Rebers. Tief berührend die Variation auf den DDR-Rock-Klassiker „Am Fenster“, angereichert mit Zeilen aus einem Gedicht von Mascha Kaléko. Famos das Geigensolo von Volker Fiebig, der mit seinem Musikerkollegen Jens Wagner Neukompositionen beisteuert.
Mit Blödeleien und scharfem Witz
Schweres wechselt mit Leichtem. Zwischen hochpolitische Texte und Songs werden Kalauer, Blödeleien und intelligente Wortspiele gestreut. Was ist künstliche Intelligenz? „Wenn sich eine Blondine die Haare färbt.“ Auf scharfe Sentenzen muss man nicht lange warten: „Die Existenz einer Dienststelle hängt in Deutschland nicht davon ab, ob sie sinnvoll ist.“ Satirischer Höhepunkt das gemeinsame Gelöbnis: Wir wollen Kunden sein und sonst gar nichts. „Wir geloben, so viel zu kaufen, wie es zum Sieg des Kapitalismus nötig ist.“
Ein Schaller-Programm ohne Hoffnungsschimmer ? Nicht denkbar. Aufforderung am Schluss: „Lasst uns Kinder zeugen, die’s besser machen.“
Wieder am 29. 7. und 6. 8., 20 Uhr, im Kulturpalast. Kartentelefon: 0351 4925555