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Marion Ackerman: "Jede documenta war eine Provokation"

Wegen antisemitischer Darstellungen wird die documenta 15 scharf kritisiert. Im Interview erklärt die Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, was Museen von der Weltkunstausstellung lernen können.

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Documenta-Mitarbeiter bauen das umstrittene Großbanner "People's Justice" des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi auf dem Friedrichsplatz ab.
Documenta-Mitarbeiter bauen das umstrittene Großbanner "People's Justice" des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi auf dem Friedrichsplatz ab. © dpa

Die documenta 15 wird wegen antisemitischer Darstellungen in diversen Kunstwerken schwer kritisiert. In der Expertengruppe, die die Weltkunstausstellung aus der Schieflage holen soll, arbeitet Marion Ackermann, die Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD). Ein Gespräch über die Zukunft der documenta und den Umgang der SKD mit antisemitischer Kunst.

Ist die documenta noch zu retten, Frau Ackermann?

Das hoffe ich sehr, ich habe seit 1982 alle documenta-Ausstellungen in Kassel und auch in Athen gesehen und es hat mir für mein Leben viel bedeutet. Alle haben sie meine eigene kuratorische Praxis geprägt.

Ist sie nicht längst viel zu groß geworden? Wäre weniger nicht mehr?

Nein, das finde ich nicht. Ich habe in vier Tagen fast alles gesehen. Man muss sich Zeit nehmen für die Kunst! Es hat sich eine starke Vernetzung mit der Stadtgesellschaft entwickelt wie bei kaum einer documenta zuvor mit lauter kommunalen Gruppierungen. So was kann man nicht in einem White Cube oder in ein paar Museumsräumen abhandeln. Es geht gerade darum, dass die Kunst rhizomartig wuchert und überall auftaucht. Über jede documenta wurde gestritten, sie war immer eine Provokation, hat aber letztlich immer die Kunst und die Gesellschaft vorangebracht. Diesmal haben wir einen besonderen Fall, dem muss man sich mit aller Ernsthaftigkeit widmen.

Marion Ackermann, Generaldirektorin Staatliche Kunstsammlungen Dresden, in Gemäldegalerie Alte Meister im Semperbau des Zwingers,
Marion Ackermann, Generaldirektorin Staatliche Kunstsammlungen Dresden, in Gemäldegalerie Alte Meister im Semperbau des Zwingers, © Matthias Rietschel

Welche Aufgaben hat das Expertengremium in Kassel?

Das Expertengremium soll die Situation um die documenta 15 wissenschaftlich-analytisch aufarbeiten und Empfehlungen an die Gesellschafter, also die Stadt Kassel und das Land Hessen, geben. Wir arbeiten unabhängig von der Politik. Unser Gremium ist multiperspektivisch zusammengesetzt. Es hat Mitglieder aus dem jüdischen Kontext, dem postkolonialen Kontext, aus der Kunst, der Rechtswissenschaft und dem indonesischen Kontext. Vorsitzende ist die Friedens- und Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff. Wir sind mitten in der Arbeit und werden zu diesem Zeitpunkt keine Details öffentlich kommunizieren.

Vor fünf Jahren gab es einen Ableger in Athen und einen Berg Schulden am Ende der documenta. Nun der Antisemitismus-Skandal. Gerät die documenta außer Kontrolle?

Es ist grundsätzlich erst einmal eine positive Entwicklung in der internationalen Kunstszene, dass die documenta 15 nicht von einem mächtigen Einzelkurator oder einer Einzelkuratorin gemacht wurde, sondern von einer Gruppe. Kuratorische Macht abzugeben, ist auch ein Grundsatz der SKD. Wir arbeiten partizipativ. Die Kinderbiennale zum Beispiel entsteht mit einem Kinderbeirat. Wir geben etwas ab im Sinne eines demokratischen Ansatzes. Und wir können von der documenta viel lernen.

Was denn zum Beispiel?

Das wird hoffentlich die Arbeit des Expertengremiums aufzeigen. Neben der Prüfung antisemitischer Inhalte wird es darum gehen, die documenta in ihrer Komplexität als Kunstformat zu betrachten. Die Beratung der Gesellschafter geht weit über die aktuelle Ausstellung hinaus und soll für die Zukunft von Bedeutung sein.

Zeigt die documenta nicht auch die Crux der Globalisierung: zu viele Einzelstimmen, die alle ihre spezifischen Rechte einfordern?

Mit der Globalisierung geht die Möglichkeit einher, mit den Menschen zu sprechen, die verschiedene Blickwinkel haben. Sich stärker zu vernetzen mit verschiedenen Stimmen und Teilen der Gesellschaft, auch mit deren Entscheidungsprozessen, ist richtig. Aber dieser offene Prozess birgt auch Risiken, wird unkontrollierbar, zu einem wirklichen Spiegel der Welt. Die Komplexität der Themen, die sich da gegenüberstehen, haben wir gesellschaftlich noch nicht im Griff. An der documenta wird genau dies sichtbar.

In den SKD und vermutlich an vielen großen Museen gibt es Kunstwerke mit antisemitischem Inhalt. Wie gehen Sie damit um?

Uns ist es wichtig, transparent zu sein, in dem, was wir tun. Mit unserer Online-Datenbank gewähren wir einer internationalen Gemeinschaft Zugang zu unseren Sammlungen. Damit erfüllen wir auch eine Forderung des Freistaates und von Drittmittelgebern, die Forschungsprojekte mitfinanzieren.

Wie viele der rund drei Millionen Kunstobjekte in den SKD kann man jetzt schon online betrachten?

Zehn Prozent, also 300.000 Werke. Die Erarbeitung der Daphne-Datenbank begann vor etwa 15 Jahren. Wenn man das hochrechnete, wären wir erst in frühestens 100 Jahren fertig. Deshalb ist die Beschleunigung so wichtig, auch wenn wir unser wissenschaftliches Team manchmal davon überzeugen müssen, etwas freizusetzen, das noch nicht bis ins letzte Detail erforscht ist. Die Dynamik und Chance einer Datenbank sieht es vor, dass Impulse, Anregungen, Informationen von außen kommen und diese sich dadurch immer wieder anreichert.

So wie Sie kürzlich darauf aufmerksam gemacht wurden, dass antisemitische Kunstwerke online zu sehen sind?

Wir haben in der Tat übersehen, dass von Josef Hegenbarth eine Arbeit zu einem Gedicht von Friedrich Rückert, das schon in den 1960er-Jahren als antisemitisch eingestuft worden war, im Netz stand. Das haben wir korrigiert.

Ist das die generelle Praxis der SKD?

Selbstkritisch würde ich sagen, dass vielleicht die starke Hinwendung zu den postkolonialen Fragestellungen in den letzten beiden Jahren – es gab ja hier in Deutschland so viel nachzuholen – die Aufmerksamkeit für das Thema Antisemitismus überlagert hat. Das geht natürlich nicht. Zumal das Gebot der Singularität gilt. Ob man im Netz oder in Sammlungen etwas gar nicht mehr zeigt oder mit Textkommentaren und Kontextualisierungen arbeitet, muss von Fall zu Fall entschieden werden. In den Ethnologischen Sammlungen gibt es beispielsweise Akt-Fotografien. Wir haben uns aus ethischen Gründen entschieden, die Menschen, die nicht gefragt worden sind, ob man sie nackt fotografieren darf, vorerst nicht im Netz zu zeigen.

Aber bei antisemitischen Darstellungen ist die Lage doch eindeutig, oder?

Es gibt in den SKD einige eindeutige Fälle und einige, bei denen es nicht so einfach zu beurteilen ist, weil sie aus weit zurückliegenden Zeiten stammen, wie zum Beispiel bei einer Figur im Grünen Gewölbe. Unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten eigenverantwortlich. In Einzelfällen entscheiden wir gemeinsam, wie wir damit umgehen.

Weil die Gesellschaft diverser geworden ist und sich der Blick auf bestimmte Probleme geändert hat?

Ja, denken Sie zum Beispiel an die Debatte Sinti und Roma versus Zigeuner. Die Generation, die den Holocaust erlebt hat, lehnt den Begriff Zigeuner vehement ab. Aber jüngere Menschen möchten sehr selbstbewusst wieder so genannt werden. Eine staatliche Institution muss sich dem Wandel von Sprache und dieser Komplexität stellen. Permanente Reflexion ist notwendig. Aber es gibt keine autoritäre Kontrollinstanz, die ein für alle Mal Festlegungen trifft, sondern es ist ein gemeinsamer, interner und gesellschaftlicher Prozess.

War der Dresdner Künstler Josef Hegenbarth, der sein Wohn- und Atelierhaus dem Kupferstich-Kabinett übereignet hat, Antisemit?

Unser Forschungsteam hatte bisher keine Hinweise gefunden für eine antisemitische Haltung von Hegenbarth. Aber natürlich werden wir dem nachgehen, zumal wir eine Einladung vom Städel Museum in Frankfurt haben, dort eine Hegenbarth-Ausstellung zu zeigen. Wir haben einen dringenden Forschungsauftrag ausgelöst. Antisemitismus kommt leider in allen Jahrhunderten vor. Auch Wassily Kandinsky hat nach Meinung von Arnold Schönberg in Gesprächen mit Dritten wohl eine Haltung zum Ausdruck gebracht, derentwegen Schönberg den Kontakt abgebrochen hat. Das heißt nun nicht, dass man Künstler wie Kandinsky oder Hegenbarth nicht mehr ausstellen kann. Aber man muss sich dem in aller Tiefe und Präzision stellen. Darüber hinaus müssen wir einen ganzheitlichen Blick anlegen und aufpassen, keine Perspektive zu ignorieren.

War Josef Hegenbarth ein Antisemit? Das Forschungsteam der SKD hat bislang keine entsprechenden Hinweise gefunden.
War Josef Hegenbarth ein Antisemit? Das Forschungsteam der SKD hat bislang keine entsprechenden Hinweise gefunden. © Walther, Pan: Bildnis Josef Hegenbarth mit Brille, Silbergelatinepapier, KK JHA 174 Reproduktion: Herbert Boswank

Wie soll das funktionieren? Allen Menschen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann…

Das stimmt, aber wichtig ist doch, dass man sich diese Fragen überhaupt stellt. Keine Perspektive darf vergessen werden. Wir sehen uns jedenfalls in der Pflicht, diese Prozesse anzustoßen.

Wird das politisch unterstützt?

Ich denke schon. Die SKD haben da eine Vorreiterfunktion in Europa zusammen mit dem Rijskmuseum Amsterdam und unter der neuen Leitung demnächst wohl auch dem Louvre in Paris. Aus der internationalen Anerkennung entsteht ja auch Stolz vor Ort. Deutschlandweit haben die SKD mit dem Daphne-Projekt der musealen Provenienzforschung eine langfristige Struktur gegeben. Zudem unterstützen wir jüdische Familien auch dann dabei, ihre im Nationalsozialismus entzogenen Werke zu finden und zurückzubekommen, wenn sich diese nachweislich nicht in unseren Beständen befinden. Durch unsere proaktive Forschung konnten wir so viel restituieren wie nur wenige andere Institutionen in Deutschland. Was ich an den SKD außerdem so sehr schätze, ist, dass wir Multiperspektivität nicht nur in unseren Sammlungen abbilden. So haben wir sehr viele Mitarbeitende aus anderen Ländern, Frauen und Männer, Ost und West in einem ausgeglichenen Verhältnis. Das tut uns gut! Auch die vielen Verknüpfungen zu Mittel- und Osteuropa mit den Kolleginnen und Kollegen, die aus der Ukraine und aus Russland unter schwierigen Bedingungen zu uns kommen, bereichern unsere Arbeit sehr.

Noch bis Jahresende läuft die Tschechische Saison der SKD. Wie wird sich die Internationalität in den Teams im Programm der SKD noch niederschlagen?

Wir haben nach der Pandemie nun wieder den Mut, mittel- und längerfristig zu planen, komplexer zu denken. Unsere großen Ausstellungen mit internationalen Leihgaben haben wir im Frühjahr gestartet, das war ein Feuerwerk, sehr anstrengend. Aber es zahlt sich jetzt aus. Gleichzeitig haben wir mit der Tschechischen Saison eine Hybrid Bridge und weitere digitale Formate eingerichtet, um unsere Ausstellungen im Falle eines Lockdowns auch im Netz zeigen zu können. Bis 2024 lassen wir allerdings noch Vorsicht walten und werden die großen und besonders aufwendigen Ausstellungen im Sommer zeigen, abgesehen von den beiden großen Museumseröffnungen im nächsten Jahr, dem Archiv der Avantgarden und der Puppentheatersammlung.

Das Interview führte Birgit Grimm.