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Operetten-Chefdirigent Ingram: "Rassismus kenne ich wohl, aber nicht in Dresden"

Der Amerikaner Michael Ellis Ingram startet als Chefdirigent der Staatsoperette Dresden. Ein Gespräch über Dresden sowie Goethe und Kafka als Lehrer.

Von Bernd Klempnow
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Michael Ellis Ingram im Foyer des Hauptgebäudes vom Kulturkraftwerk Mitte, in dem auch die Staatsoperette spielt. Er stammt aus dem US-Bundesstaat Missouri, lebt aber schon lange im deutschsprachigen Raum.
Michael Ellis Ingram im Foyer des Hauptgebäudes vom Kulturkraftwerk Mitte, in dem auch die Staatsoperette spielt. Er stammt aus dem US-Bundesstaat Missouri, lebt aber schon lange im deutschsprachigen Raum. © PR Staatsoperette

Ein Amerikaner in Dresden: Mit kubanischem Jazz und Pariser Charme in einer fast unbekannten Inszenierung eröffnet der neue Chefdirigent der Staatsoperette, Michael Ellis Ingram, an diesem Wochenende seine dreijährige Amtszeit. Drei große Produktionen bringt er demnächst neu heraus sowie Wiederaufnahmen. Gelegenheit, mit dem 39-Jährigen darüber zu reden, warum er keine „Chefstücke“ macht, warum er kein Beethoven-Maestro ist und wie es ist, immer in der sichtbaren Minderheit zu sein.

Herr Ingram, Sie starten als Chefdirigent nicht mit einem Paukenschlag, sondern einer Rarität, einer nahezu unbekannten Zarzuela – warum?
Das Stück „Du bist ich“ vom Kubaner Moises Simons passt sehr gut zum Thema unseres ersten Sommernachtsballs „Eine Nacht in Havanna“. Das Werk, 1934 uraufgeführt, ist erstmals seit seiner deutschsprachigen Erstaufführung 2013 wieder auf einer Bühne. Wir alle kannten es vorher nicht, sind aber jetzt begeistert. Es ist wirklich schwungvolle Musik, die richtig Spaß macht, sie zu spielen und zu singen.

"Du bist ich oder: Der Traum von der Karibik" ist das erste Stück, das unter Leitung von Michael Ellis Ingram an der Staatsoperette Premiere feiert.
"Du bist ich oder: Der Traum von der Karibik" ist das erste Stück, das unter Leitung von Michael Ellis Ingram an der Staatsoperette Premiere feiert. © Pawel Sosnowski

Diesen kubanischen Jazz können Sie?
Jo, kann ich. Genauso wie ich jede Gattung liebe, mag ich auch jede Stilrichtung von Musik. Auf meiner Handy-Playlist finden Sie schwedische Volksmusik neben niederländischer Popmusik neben traditioneller Musik aus Ägypten, neben Motown-Musik, Rap und Bluegrass. Schon als Kind habe ich immer die Frage im Kopf gehabt: Was macht diese Musik aus? Also was ist der Unterschied zwischen einer Rumba und einem Marsch, einem Walzer und einem Tango? Wenn ich diese Frage beantworten kann, dann kann ich jede Musik spielen, komponieren und dirigieren. In „Du bist ich“ hört man die typischen lateinamerikanischen Rhythmen, gleichzeitig aber viel Musik, die diesen Pariser Charme hat, Musik, die man Offenbach zuordnen würde. Da sind eine große Leichtigkeit und Eleganz. Diese Kombination ist reizend.

Sie leiten zwei weitere Premieren diese Saison mit dem Mississippi-Musical „Show boat“ und der Kalman-Operette „Bayadere“ sowie Wiederaufnahmen. Aber nicht eigentliche Chefstücke wie „Die Fledermaus“. Warum?
Das stimmt. „Die Fledermaus“ leitet mein Stellvertreter Christian Garbosnik genauso wie Peter Christian Feigel seine Stücke behält. Das war mir sehr wichtig, denn beide Kollegen sind sehr lange am Haus, haben so viel Erfahrung und kennen die Stilistik unglaublich gut. Davor habe ich einen riesigen Respekt, und ich arbeite sehr gerne und sehr eng mit den beiden zusammen. Und wenn meine Lieblingsstücke angesetzt sind, die sie dirigieren, dann gehe ich einfach in die Vorstellung und genieße.

"Was in der Staatsoperette gespielt wird, ist cool"

Was war Ihr Impuls, sich bei der Staatsoperette zu bewerben?
Ich habe mich hier nicht beworben. Ich war am Anfang meines ersten freischaffenden Jahres und hatte überhaupt nicht im Sinn, eine feste Anstellung anzunehmen. Die Intendantin Kathrin Kondaurow hatte mich aus heiterem Himmel angerufen. Eigentlich wollte ich gleich absagen, aber dann wurde das Gespräch übers Theater und die Operette, über die Gattung und wie man mit dieser Nostalgie nach vergangenen Zeiten umgeht, sehr interessant. Dann hat sie es mir angeboten, nicht die üblichen 20/30 Minuten mit dem Orchester zu arbeiten, sondern 2,5 Stunden. Das ist unglaublich wertvoll. Und bei der Probe haben wir alle gemerkt, dass da was Gutes ist und vielleicht sogar was Magisches.

Sie sagen, Sie wollen neues Publikum ins Haus ziehen. Was planen Sie?
Ich will gezielt Leute kennenlernen und auch die verschiedenen Gemeinden in der Stadt. Dresden ist unheimlich bunt inzwischen. Es gibt so viele kleine Welten, und da will ich hin. Sicher ist es für Leute zunächst ungewöhnlich, wenn ich sage, ich bin Dirigent. Bei dem Wort denken ja viele an Beethoven. Ich passe aber nicht zu diesem klassischen Bild des Maestros. Da hoffe ich, dass schon allein das ein bisschen neugierig macht. Wenn die Leute die Hemmschwelle des Erstbesuches geschafft haben, merken sie ganz schnell: Was in der Staatsoperette gespielt wird, ist cool.

Woher kennen Sie Dresden?
Ich habe hier 2011 bis 2012 gearbeitet, als ich in Leipzig gelebt habe. Ich leitete das Werkstattorchester der Musikhochschule. Dresden, das war wirklich Liebe auf den ersten Blick. Dann war ich in Nordhausen und Schwerin, habe in Leipzig, Hamburg und Salzburg unterrichtet.

Und trotzdem gehen Sie nun ausgerechnet fest nach Dresden, jener Stadt, der der Ruf anhängt, dass hier Leute rassistisch beleidigt werden. Mutig!
Ich selbst habe keinen unglücklichen Augenblick in dieser Stadt erlebt: keine Beleidigung, keine Auseinandersetzung. Deshalb kommt mir dieser Ruf so komisch vor. Ich denke, reden Sie wirklich von Dresden, von meiner lieben Stadt? Zumal sich ja Dresden in den vergangenen zehn Jahren, die ich die Stadt kenne, verändert hat. Die Stadt ist vielfältiger geworden. Wissen Sie, ich bin nun mal in der sichtbaren Minderheit in mehrfachem Sinne. Das war ich schon immer, auch in meiner Heimatstadt, in meiner Schule, in meiner Kirche, auf der Universität. Ich habe wirklich seit der Kindheit Rassismus von A bis Z erlebt. Von kleinen, nervigen oder lustigen Sachen bis hin zu Todesdrohungen. Doch das beängstigt mich nicht, das stört mich nicht, das ärgert mich nicht. Ich lebe einfach mein Leben.

"Ich dirigiere deutsches Kulturgut"

Respekt! Ist aber auch nicht die optimale Lösung, oder?
Was wäre eine bessere Lösung? Sehr oft handelt es sich um einen Mangel an Begegnungen. Wenn viele Menschen sagen, Ausländer, Queer-Menschen oder Schwarze sind schlecht, dann deshalb, weil sie noch nie jemanden kennengelernt haben, der zu diesen Gruppen gehört. Und da haben sie natürlich ein Bild im Kopf, was beängstigend ist oder zerstörerisch. Deshalb setze ich auf Gespräche. Wer mir einmal begegnet ist und erfährt, ich bin nett, spreche ein passables Deutsch, dirigiere Operette, also deutsches Kulturgut, ich bin niemand, der jemandem etwas wegnehmen will oder der die hiesige Kultur stören oder zerstören will, dann ändert sich vielleicht die Einstellung. Das heißt, die Begegnungen im kleinen Kreis, sind die, über die ich mich freue.

Passables Deutsch ist gut! Wie haben Sie so perfekt Deutsch gelernt?
Ich hatte sehr gute Lehrer: Kafka, Kleist, Goethe, Schiller, Musil, Mann, Schnitzler, Bernhard ... Zum Deutsch bin ich als Teenager über Gustav Mahler gekommen, der unter seinen Noten absatzweise Anweisungen für den Dirigenten geschrieben hat. Diese Texte wollte ich lesen, um die Noten wirklich zu verstehen. So habe ich mir ein bisschen Deutsch autodidaktisch beigebracht und dann auf der Uni als Nebenfach studiert. Ich habe Deutsch schon sechs Jahre lang gesprochen, bevor ich das erste Mal in Deutschland war.

Neben dem Dirigieren führen Sie Regie, schreiben, unterrichten, moderieren und komponieren auch. Letzteres sehr erfolgreich. Wie tun Sie das?
In vier Phasen: Ich denke, skizziere, spiele und tippe. Ich komponiere zunächst im Kopf, denke über das Stück nach. Vor einem leeren Blatt Papier zu sitzen, hilft nicht. Ist die Idee da, dann skizziere ich mit dem Stift in meinem kleinen Notizbüchlein. Es passiert etwas, wenn man einen Stift benutzt. Durch die Kraft des Stifts entstehen neue Gedanken. Dann gehe ich ans Klavier, spiele die Gedanken und Skizzen durch, improvisiere viel, da entstehen noch mal andere Dinge. Ich kann Sachen fürs echte Ohr austesten, was ich mir im inneren Ohr vorgestellt hatte. Und dann tippe ich. Das heißt, ich benutze eine Notensatz-Software auf dem Computer. Das ist sehr praktisch, wenn man etwas ändern will. Also ich empfehle jedem zu komponieren. Besonders Leuten, die dirigieren.

Mut zu einer eigenen Interpretation

Behandeln Sie als Komponist die Werke anderer anders? Mit mehr Respekt?
Mit deutlich weniger Respekt sogar. Denn wenn man als junger Dirigent die ersten Sinfonien lernt, lernt man, als hätten diese Partituren einen Heiligenschein. Nichts darf geändert werden, nichts individuell sein. Wenn man selbst anfängt zu komponieren, merkt man, dass jeder Ton eine bewusste Entscheidung ist. Nur ist die am Montag so und vielleicht am Dienstag oder am Mittwoch anders. Hätte Beethoven mehr Zeit gehabt für seine Kompositionen, wären sie vielleicht anders geworden. Wenn ich für meine Kompositionen keine Abgabetermine hätte, würde ich wahrscheinlich auch weiter ändern. Und dann fängt man an, mit Röntgenaugen zu schauen, was sich der Komponist wohl dabei gedacht haben könnte. Das sollte der Dirigent wissen und trotzdem den Mut zu einer eigenen Interpretation haben.

Zurück zu Dresden. Welches ist Ihr Lieblingsort in der Stadt?
Ein unspektakulärer: Die Wiese auf dem Georg-Treu-Platz zwischen Albertinum und Kunstakademie mit Wieland Försters Plastik „Großer trauernder Mann“. Förster fasziniert mich seit Jahren. Und der „Mann“ ist ein Ruhepol in dem doch recht turbulenten Zentrum. Er ist so mächtig, so bedeutungsschwer, aber sehr unauffällig.

Aufführungen von „Du bist ich oder: Der Traum von der Karibik“ am 1. und 15. September sowie 4., 13., 18., 26. und 28. Oktober in der Staatsoperette Dresden; Karten unter 0351 32042222 oder hier.