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Sie zeigte das Leben der Menschen in der DDR

Evelyn Richter war die Grande Dame der ostdeutschen Sozialfotografie. Am Sonntag starb sie im Alter von 91 Jahren.

Von Birgit Grimm
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Evelyn Richter 2010 im Leonhardimuseum Dresden, das ihr zum 80. Geburtstag eine Einzelausstellung gewidmet hatte.
Evelyn Richter 2010 im Leonhardimuseum Dresden, das ihr zum 80. Geburtstag eine Einzelausstellung gewidmet hatte. © Archiv Robert Michael

Klassische Selbstporträts von ihr sucht man vergeblich. Wenn Evelyn Richter sich selbst fotografierte, dann experimentierte sie mit Licht und Spiegeln, verkleidete sich oder versteckte sich hinter der Kamera und blieb ein winziger Teil des Bildes. Und sie war so eine schöne Frau! „Sogar noch im Tod“, sagt ihr Bruder Peter Richter. „Aber sie hatte auch zu Hause nur einen winzig kleinen Spiegel im Bad“, erzählt er.

Evelyn Richter, die am Sonntag im Alter von 91 Jahren starb, hat in ihrem langen Leben viele Menschen porträtiert. Künstler, Schauspieler, Dichter, Musiker, Kinder. Zum Beispiel den Geiger David Oistrach und den Komponisten Paul Dessau. Oistrach reiste sie viele Jahre hinterher, beobachtete ihn auf seinen Konzerten und bei Proben und machte daraus einen Fotoband, in dem man sehr gut auch ihre Arbeitsweise nachvollziehen kann. Keins der Bilder steht für sich, eins ergibt sich aus dem anderen, eine erhellende Kombination.

1972 begegnete der Fotografin dieses Kind in der Straßenbahn, das ganz offensichtlich seine Freizeit bei der Pioniereisenbahn verbrachte.
1972 begegnete der Fotografin dieses Kind in der Straßenbahn, das ganz offensichtlich seine Freizeit bei der Pioniereisenbahn verbrachte. © Evelyn Richter

Die Fotografin, die 1930 in Bautzen geboren wurde, war in den 1950er-Jahren an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) immatrikuliert. Dort hatte sie sich neben der Fotografie auch mit Buchgestaltung befasst und mit versierten Gestaltern wie Walter Schiller und Horst Schuster zusammengearbeitet. Ein anderes Fotobuch, das sie mit Kolleginnen und Kollegen bebilderte, heißt „Entwicklungswunder Mensch“ und beschäftigt sich mit der Entwicklung von der Geburt bis zum Schulbeginn.

Sie rückte niemandem auf den Pelz

Aber viel mehr noch war Evelyn Richter die Grande Dame der Sozialfotografie. Manche behaupten, wenn man wissen will, wie es in der DDR war, soll man sich ihre Fotos ansehen. Andere wieder halten sie für eine Künstlerin. Sie fotografierte immer in Schwarz-Weiß und hat ihre Motive nie beschnitten. Sie rückte den Menschen, die sie in der Straßenbahn, im Café oder im Museum sah, unvoreingenommen sah, nicht in Paparazzimanier auf den Pelz. Wenn sie ein müdes Gesicht einfing, dann nicht, um den Menschen in seiner Erschöpfung zu verraten. Und sie hatte Geduld, unendlich viel Geduld, konnte warten auf den richtigen Moment. Wie im Albertinum 1975. Nach zwei langen Wochen im Museum lief ihr die Frau mit der Strickmütze vor die Kamera, die sich Wolfgang Mattheuers Gemälde „Die Ausgezeichnete“ anschaute. Gemälde und Fotografie wurden zu Ikonen der Kunst aus der DDR. Sozialistische Helden in starken Arbeiterposen oder selbstgefällige Parteitagsredner interessierten Evelyn Richter nicht.

Nach Jahren als freischaffende Theater- und Werbefotografin kehrte sie 1981 als Lehrerin an die HGB zurück. Von 1991 bis 2002 war sie dort Ehrenprofessorin. Außerdem unterrichtete sie Fotografie an der Fachhochschule in Bielefeld.

Neugier, Respekt, Einfühlsamkeit

Die Ostdeutsche Sparkassenstiftung erwarb 2009 ihren Vorlass mit 730 Fotografien, die im Evelyn-Richter-Archiv am Leipziger Museum der bildenden Künste bewahrt werden.

Während die Einzelausstellung im Leonhardimuseum Dresden zu ihrem 80. Geburtstag ein Publikumsmagnet war, blieben der Ausstellung des Kupferstich-Kabinetts zum 90. Geburtstag im Dresdner Albertinum viele Besucher verwehrt. Sie fiel in die Zeit des ersten Corona-Lockdowns. In Düsseldorf ehrte man Evelyn Richter im vorigen Jahr als erste Preisträgerin des neuen Bernd-und-Hilla-Becher-Preises.

Björn Egging, Konservator am Dresdner Kupferstich-Kabinett, sagt: „Evelyn Richter hat sich konsequent von Anfang an künstlerisch nicht vereinnahmen lassen. In ihrer sozialdokumentarischen Fotografie, die von Neugier, Respekt und Einfühlsamkeit geprägt ist, hat sie Menschenbilder geschaffen, in denen der Widerspruch zwischen Ideologie und echtem Leben pointiert sichtbar wird, die darüber hinaus aber eine zeit- und ortlose Gültigkeit erlangen, dass sie zwischen Ost und West im Grunde keinen Unterschied machen.“

Am Sonntag ist Evelyn Richter nach dem Frühstück im Rudolf-Frieling-Haus in Dresden friedlich eingeschlafen. Dort hatte sie seit einem Schlaganfall vor acht Jahren gelebt. Familie und Freunde konnten Abschied von ihr nehmen.

Per Lastkahn ins Traumland? 1972 an der Berliner Museumsinsel fotografiert von Evelyn Richter.
Per Lastkahn ins Traumland? 1972 an der Berliner Museumsinsel fotografiert von Evelyn Richter. © SAE Sächsische Zeitung