Sieben Stunden dauerte Frank Castorfs Wallenstein-Inszenierung

Von Rainer Kasselt
Friedrich Schiller meinte während der Arbeit an der „Wallenstein“-Trilogie: „Es ist ein Meer auszutrinken, und ich sehe manchmal das Ende nicht.“ Ähnlich muss es Regisseur Frank Castorf gegangen sein. Er inszenierte erstmals am Dresdner Staatsschauspiel – und ließ sich mit Schillers Monumentaldrama nicht lumpen. Die Premiere am Donnerstag im Schauspielhaus wurde mit sechs Stunden angekündigt, am Ende waren es sieben, mit einer Pause. Die Aufführung war zugleich die erste komplette Durchlaufprobe, wie Intendant Joachim Klement zugab. Die Souffleuse hatte zu tun.
Eine misslungene lange Nacht also? Eine Überforderung der Zuschauer? Gewiss für jene, die ohne Vorkenntnisse von Castorfs Ästhetik kommen. 25 Jahre leitete er die Volksbühne Berlin. Ihm eilt der Ruf voraus, ein Stücke-Zertrümmerer zu sein. Falsch. Er befragt die Stücke aus heutiger linker Sicht, kürzt, zensiert, fragmentiert, irritiert, fügt fremde Texte ein. Er will aufklären, Mitdenken befördern, mit seiner Kunst Akzente für eine gerechtere Welt setzen. Im Programmheft erklärt Castorf, warum er sich mit dem Wallenstein-Stoff beschäftigt, der durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine bestürzende Aktualität erfährt: „Wie groß Europa ist, wie viele damals in den Dreißigjährigen Krieg involviert waren, all die Nationen und Figuren, die auch bei Schiller auftreten, wenn man sich das veranschaulicht, wird einem klar, dass Europa eine offene Wunde ist.“
Drama über Macht, Verrat, Lüge
Gespielt wird auf der von Aleksandar Denic eingerichteten Spielfläche. Ein Zelt mit Kommandobrücke und Regiments-Standarten. Auf der riesigen Leinwand prangt Schwarz auf Gelb ein Doppeladler, Symbol für das Kaisertum der Habsburger. Die Drehbühne wird zum leuchtenden Sternenzelt, gestaltet nach einem Holzstich aus dem 19. Jahrhundert mit strahlender Sonne und flacher Erde, zeigend das Kopernikanische Weltbild, nach dem die Erde nicht Mittelpunkt des Universums ist.
Castorf mischt die drei „Wallenstein“-Teile in eins, beginnt aber klassisch mit Schillers Prolog. Im 16. Jahr des Krieges ist das Land beherrscht von Verwüstung, Elend, Raub, Vergewaltigung. „Der Bürger gilt nichts mehr, der Krieger alles.“ Neun blutbeschmierte Nackte in schwarzen Stiefeln, Frauen und Männer, Opfer und Täter zugleich, jagen über die Bühne. Von Schiller geht es direkt in den Zweiten Weltkrieg. Hitler und Stalin haben Polen aufgeteilt. Die Soldaten zitieren ein Gespräch des NS-Generalgouverneurs Hans Frank mit seiner Frau Brigitte: „Wir sind ein Volk von Herren, nicht von Barbaren. Wir sind ein Herrenvolk.“ Der Pole dürfe stolz sein, für die Deutschen arbeiten zu dürfen. Brigitte schwärmt von der Eleganz der Polinnen. Solche Assoziationen sind typisch für Castorf, sie ziehen sich durch die gesamte Inszenierung. Mit vielen eingestreuten Texten des italienischen Autors Curzio Malaparte, der 1942 Kriegsberichterstatter in Polen war. Er schreibt überhitzt, sprunghaft, passt perfekt zu Castorf.
Das Stück ist ein Drama über Macht, Verrat, Lüge. Die Liebe des idealistischen Paars Max und Thekla hat keine Chance. Wallenstein glaubt den Sternen und verkennt seine Lage. Er überhebt sich selbst, vertraut seinem Freund Octavio Piccolomini, der ihn hintergeht. Die Herren Generale um Illo, Terzky oder Isolani spielen ihr eigenes Spiel um Villen, Ländereien, Titel. Die sogenannten kleinen Leute halten die Knochen hin, himmeln verblendet ihre Führer an und gehen leer aus. Immer wieder wird die Geschichte vom Siegen und Scheitern des Feldherrn Wallenstein von aktuellen und historischen Bezügen gespiegelt. Teils witzig, teils bitter, teils nachdenklich. Ein Skooterrennen mit Spielpanzern wird zur vergnüglichen doppelsinnigen Beigabe. Umso ernster Goethes Lied über die Zerstörung Magdeburgs durchs Tillys rasendes Heer, in dem es über die jungen Frauen heißt: „Was lebt, ist keine Jungfer mehr.“
Von Heino bis Rammstein
Die Musik reicht von Heinos „In einem Polenstädtchen“, Rammsteins „Bang Bang“ über „Schlaf, Kindlein schlaf“ bis zum Schlager „Oh, wann kommst du“. Auch Kinogänger werden ihre Freude beim Entdecken haben: „Die unendliche Geschichte“, „Edward mit den Scherenhänden“, Hitchcocks Thriller „Bei Anruf Mord“ und andere. Physische Schwerstarbeit leistet das gut besetzte Ensemble. Die meisten Auftritte werden in Großaufnahme per Video gezeigt, immer die Live-Kamera im Nacken. Die Darsteller in wechselnden Rollen werden von der Regie in Ekstase versetzt, sie brüllen, kreischen, winseln, die Kamera zeigt quasi „eine Operation am bloßen Nerv ohne Narkose“.
Hervorzuheben Nadja Stübiger als drängende, selbstbewusste und stark singende Gräfin Terzky und Henriette Hölzel als eifrig Küsschen verteilende Marketenderin, gepeinigt von minutenlangen Wehen. Ihr Schmerz hört sich an wie ein Schrei gegen den Krieg. Jannik Hinsch als abgebrühter, die Fäden ziehender Illo ragt heraus, ebenso wie Torsten Ranft als eiskalter Diplomat oder Daniel Séjourné als charmanter französisch singender Questenberg. Götz Schubert als Wallenstein hat die Figur noch nicht ganz zu seiner gemacht, sie neigt zur Karikatur des Zauderers. Kräftiger seine spöttische Überheblichkeit.
Kern der Aufführung ist der Dialog von Vater und Sohn Piccolomini. Max kennt keinen einzigen Tag in Frieden. Inständig bittet er: „Oh! Lass den Kaiser Friede machen, Vater!/ Den blutgen Lorbeer geb ich hin, mit Freuden/ Fürs erste Veilchen, das der März uns bringt.“ Am Ende zitieren die Darsteller ein Manifest mit der Botschaft indigener Völker gegen Unterdrückung, Diskriminierung und Ausgrenzung. Ein dringlicher Appell für Frieden und gegen den Krieg. Jubel und langer Beifall für alle Beteiligten.
Wieder am 23.4., 14.5. und 26.5., Kartentel.: 0351 4913555