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Ein Happen Broadway in Dresden

Das amerikanische Popmusical „Pippin“ wird in der Staatsoperette bejubelt. Einmal traut man seinen Augen nicht.

Von Rainer Kasselt
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Kerry Jean (M.) ist ein schillernder Showstar. Sie ist in "Pippin" Entertainerin, Nummerngirl und Gastgeberin in Personalunion.
Kerry Jean (M.) ist ein schillernder Showstar. Sie ist in "Pippin" Entertainerin, Nummerngirl und Gastgeberin in Personalunion. © Pawel Sosnowski

Die Gaukler sind los. Vor dem Theater und auf der Bühne. Feuerschlucker, Einradfahrer, Jongleure. Sie versprühen Lust und gute Laune. Versprechen Magie, Zauber, Wunder. Stürmen durch Foyer und Parkett. Samstagabend in der rappelvollen Staatsoperette Dresden. Premiere für das amerikanische Popmusical „Pippin“ mit der ins Blut gehenden Musik von Stephen Schwarz, die Lieder in Deutsch gesungen.

Das Theater lässt sich nicht lumpen, greift in die Vollen. Opulentes Bühnenbild, tolle Kostüme, ein Fest fürs Auge. Als Extra-Clou die Erweiterung der Original-Orchestrierung durch Arrangeur Koen Schoots. Eigens für Dresden geschrieben! Mehr Streicher, mehr Bläser, mehr Klangfülle. Das Orchester mit dem blendend aufgelegten Dirigenten Peter Christian Feigel entfacht einen mitreißenden Sound. Feurig und sanft, mal auftrumpfende Bigband, mal leises Gitarrensolo.

Hinreißende Kerry Jean

Hauptperson des dreistündigen Abends ist die hinreißende schwarze kalifornische Sängerin und Tänzerin Kerry Jean. Als Prinzipalin einer Gauklertruppe lässt sie die Geschichte des Königsohns Pippin aufführen. Kerry Jean führt durchs Programm, treibt das Geschehen voran, haut die Darsteller an, wenn sie nicht nach ihrer Pfeife tanzen. Entertainerin, Nummerngirl und Gastgeberin in einer schillernden Person. Vor allem aber tanzt und singt sie atemberaubend. Stimmiges Rhythmusgefühl in jeder Bewegung. Ein Showstar, wie man ihn nicht alle Tage erlebt, begeistert gefeiert von den Zuschauern.

Die historisch verfremdete Story handelt im Mittelalter. Erzählt werden Pippins Lehr- und Wanderjahre. Sein Vater ist der mächtige Regent Karl der Große. Pippin möchte Spuren hinterlassen, etwas Besonderes sein. Sein arger Weg der Erkenntnis hangelt sich über die Stationen Krieg, Vatermord, Betstuhl, Thronbesteigung, Sozialreform. Dann der Abflug in den Alltag. Begnügen mit dem kleinen Glück. Trautes Heim mit Weib und Kind. Eingerichtet hat das Ganze ein Könner seines Fachs: der vielseitige Regisseur und Choreograf Simon Eichenberger. Er inszenierte bereits mehrfach im Haus, erinnert sei an die „Dreigroschenoper“ aus der Zeit von Intendant Wolfgang Schaller. Eichenbergers Produktion verströmt eine kräftige Prise Broadway-Atmosphäre. Mit allem Für und Wider. Ohne Schmus und Sentimentalität funktionieren Musicals dieser Art nicht, Hollywood steht Pate. Vermeintlich wilde Sexszenen bleiben braves Klischee, ländliche Gegend mit viel Geschnatter und Getier ist bloß peinlich. Bei Licht betrachtet ist „Pippin“ ein Schmachtfetzen, erträglich durch ironische Überhöhung, bissigen Humor, witzige Dialoge, schräge Einfälle. Und durch den überwältigenden Sound und die heißen, vom Stuhl reißenden Tänze.

Gemetzel und Kriegsgeschrei

Einmal aber scheint die Regie von allen guten Geistern verlassen zu sein. Gemetzel auf der Bühne, Kriegsgebrüll. „Und dann ziehen alle Männer fröhlich in die Schlacht“, heißt es. Und die Toten liegen herum. Ach ja, wir hatten es fast vergessen, es sei ja so schön, Soldat zu sein. Für „Ruhm und Ehre“ des Herrschers zu kämpfen höchstes Glück, „siegreich sei sein Schwert“. Zynisch raunt Karl: „Und man rechnet mit Verlusten, die man gut verschmerzen kann.“ Gewiss, man kennt aus der Geschichte Hurrageschrei und Kriegsbegeisterung. Aber diese Bilder schmerzen, man sieht sie nicht ohne Bezug zum blutigen Krieg in der Ukraine. Daran ändert auch nichts, dass Pippin im weiteren Verlauf zum geläuterten Pazifisten wird. Vorher lässt das Stück den Krieg hochleben. Schwer zu begreifen, wie man diese Szenen ohne Distanz auf die Bühne bringen kann.

Wenden wir uns Erfreulicherem zu. Ensemble und Solisten sind in Bestform. Bettina Weichert lässt sich als lebenslustige Ex-Königin Bertha nicht aufs Altenteil abschieben, läuft Rollschuh. Sie ermuntert ihren grübelnden Enkel Pippin im Hit „Zeit zu leben“ die Freuden des Daseins nicht zu verachten: „Du musst den Augenblick leben.“ Und holt sich einen muskulösen Kerl ins Bett. Publikumsliebling Silke Richter gibt die intrigante, verschwenderische Monarchen-Gemahlin Fastrada. Sie will ihren dümmlichen Sohn Ludwig (Sascha Luder) zum König machen. Mit dem Publikum schäkert sie: „Ich bin eine Mutter und Hausfrau wie ihr.“ Von wegen. Ihr Göttergatte Karl wurde dem Bariton Marcus Günzel anvertraut. Er spielt den König gelangweilt, die Pflichten des Amtes ermüden ihn, Bittsteller jagt er vom Hof. Er stirbt, ohne mit der Wimper zu zucken, noch gelassener reagiert er auf seine Wiederauferstehung. Als Pippin sich für den Vatermord entschuldigt, murmelt Karl: „Schon gut, Sohn. Aber lass es nicht noch mal vorkommen.“

Die Titelfigur verkörpert Tenor Gero Wendorff, keine leichte Rolle. Seine Töne stimmen, das Spiel nicht immer. Das Befinden meist „hohl und leer“. Tragikomisch Pippins missglückte Liebesnacht mit der patenten Witwe Katharina (Sibylle Lambrich). Solisten und Ensemble werden mit Applaus überschüttet. Das Musical 1972 uraufgeführt, 2013 am Broadway neu gefasst, erlebt in Dresden quasi seine dritte Geburt. Die Inszenierung hat die Potenz zum Renner. Wer möchte nicht mal ein Häppchen Broadway naschen? Klar, man kann sich dabei auch verschlucken.

Wieder am 31. Januar, 1., 25. und 26. Februar in der Staatsoperette Dresden im Kulturkraftwerk

Kartentelefon: 0351 32042 222