So startete Dresdens Staatsschauspiel mit "Alice"

Sonnabendabend am Schauspielhaus Dresden. Kein Gewimmel, aber geordnetes Gewusel – das Staatsschauspiel startete nach dem Wellenbrecher-Lockdown wieder, und das zudem mit der Premiere „Alice“. Das Stück ist eine Bearbeitung der Kinderbücher von Lewis Carroll wie „Alice im Wunderland“ durch den Avantgarde-Regisseur Robert Wilson mit der Musik vom bühnenaffinen Songwriter Tom Waits. Dies war 1992 herausgekommen und wird gern von Theaterfans als legendär verklärt.
Ein pädophiler Autor und seine Muse
Es hätte also ein Fest werden können im Dresdner Schauspielhaus. Ein sicheres zudem, denn das Hygienekonzept des Hauses ist sehr gut. Geordnet nach Parkett und Rängen wird man geleitet, natürlich mit FFP2-Maske. Bereits draußen werden Impfpässe, QR-Codes, Tests und Karten kontrolliert. Auf jeder Ebene sind die Garderoben offen, kein Gedränge also. Knapp 300 der 800 Plätze sind vergeben. 50 Prozent wären möglich gewesen, die neue, erweiternde Corona-Verordnung kam zu kurzfristig. Doch kaum ein Raunen wie sonst vor Premieren in den Gängen, sondern Zurückhaltung. Die Maske dämmt, Brillen beschlagen. Wer Wein vorab will, bekommt ihn, Bier auch. Das Aroma hat er dann die nächsten anderthalb Stunden der pausenlosen Aufführung in seiner Maske. Wenig Festliches wird getragen. Kaum einer im Anzug, wenige Sakkos und Kleider, dafür viele schlecht sitzende Jeans und aufgetragene Hemden und Pullover. Nach und nach geht es in den Saal. Jeweils eine Reihe und zwei Plätze zum Sitznachbarn bleiben frei und die Maske auf.

Das Eintreffen von Bühnenmusikern signalisiert: Es geht los! Doch das Spiel ist kein Märchen wie die Inszenierungsfotos vermuten lassen, sondern eine strenge, eine verwirrende Bilder-Geschichte für Erwachsene. Wilson erzählt eigentlich zwei, eine von Alice und eine von Charles Dodgson, der als Lewis Carroll all die putzigen Figuren wie Märzhase, Schachkönigin und Grinsekatze erfand. Seine literarische Alice trifft diese in einer Wunderwelt – und auch Dodgson, der sie liebt, sie maßregelt und immer wieder fotografiert.
Es gab tatsächlich eine besondere Beziehung zwischen einem Mädchen namens Alice und dem Autor. Ob Letzterer pädophil war und ob Alice missbraucht worden ist, dafür gibt es keine Beweise, nur Vermutungen. Wilson zeigte es einst bei der Uraufführung überdeutlich, obwohl Wissenschaftler bei Dodgson eher eine andere Motivation sahen. Er gehörte wohl zu jenen Männern, die Glück und Geborgenheit empfinden, wenn sie viel Zeit mit Kindern verbringen, weil sie sich in einer kindlichen (Traum-)Welt am wohlsten fühlen.
Königin mit Rammstein-Stimmen-Sound
Die Dresdner Inszenierung von Mina Salehpour bleibt vorsichtig. Das Staatsschauspiel weist jedoch darauf hin, dass in „dieser Inszenierung sexueller Missbrauch thematisiert wird. Es werden Handlungen angedeutet, die belastend oder retraumatisierend wirken könnten“. Mit den Worten im Kopf sitzt man ganz anders in der Vorstellung, sieht im Zweifel mehr, als ist. Warum wurden die sehr gut einordnenden, verständlich erläuternden Texte des Programmheftes zu diesem Thema nicht vorab auf der Website veröffentlicht?
Doch zunächst beginnt alles mit einer Art Nonsens-Revue: Alice gerät in ein Wunderland und trifft auf ihrem Weg daraus sprechende Blumen, altkluges Getier, eine skurrile Teegesellschaft, die Zeit totschlägt, eine blutrünstige Königin ... Wer Alice ist, kann ihr keiner erklären. Auch sonst gibt es mehr Rätsel, Wortspiele, Stegreif-Hülsen und viel Musik. Fast jede Figur singt. Da sind eingängige Songs dabei, viele weiche, aber auch gewaltige. Den Zuschauern in den ersten Reihen dürften mitunter die Ohren gewackelt haben. Fast alle Songs sind auf Englisch, es gibt keine deutschen Übertitel, obwohl dieser Subtext für das Verständnis der Handlung wichtig ist. Zumal bei einem Publikum, das eher Richtung 70 tendiert. Nach 45 Minuten der erste Blick auf die Uhr: „Ups, erst die Hälfte geschafft!“
Die zweite schafft man auch, trotz Längen. Es gibt ja Akteure, die gefangen nehmen wie die zarte, trotzig-neugierige Kriemhild Hamann in der Titelpartie und Anna-Katharina Muck als Königin mit Rammstein-Stimmen-Sound.
Und es sind die Ausstattungseinfälle, die überzeugen: die verblüffenden, blitzschnellen Szenenwechsel, die ungemein fantasievollen Szenerien und markanten, jahrhundertealten Theatertricks.
Am Ende sehr freundlicher Applaus für alle Akteure – die auf der Bühne und die im Saal. Endlich wieder Theater! Wirklich? Man geht doch weg, um zu vergessen, sich zu unterhalten oder anregen zu lassen. Die Maske erinnert stetig und nur ans Virus. Mal schauen, ob das Publikum wirklich zurückkehrt, solange die Pandemie dauert.
- Wieder am 21. 1. sowie 9. und 19. 2.; Kartentel. 0351 4913555