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Uwe Tellkamp findet in Deutschland "alles, was ich hasse"

Der Schriftsteller gibt beim Streitgespräch in der Frauenkirche über Meinungsfreiheit und Gendersprache mit seinem Kollegen Lukas Rietzschel eine bizarre Vorstellung.

Von Karin Großmann
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In der Gesprächsrunde des Forums Frauenkirche unter dem Titel "Was darf das freie Wort und wie viele Meinungen verträgt die Wirklichkeit?" war neben Tellkamp auch der Autor Lukas Rietzschel geladen.
In der Gesprächsrunde des Forums Frauenkirche unter dem Titel "Was darf das freie Wort und wie viele Meinungen verträgt die Wirklichkeit?" war neben Tellkamp auch der Autor Lukas Rietzschel geladen. © www.loesel-photographie.de

Wir haben uns tatsächlich nicht verstanden. So das Fazit des Abends. Die Moderatorin bezog es auf die Akustik. Alexandra Gerlach kämpfte am Donnerstag in der Dresdner Frauenkirche mit einer Mikrofonanlage, die nicht nur knisterte, sondern das Hören auf dem Podium erschwerte. Dabei wäre Zuhören eine prima Voraussetzung für ein Gespräch. Auch ein paar Gemeinsamkeiten wären hilfreich. Sie beschränkten sich hier fast nur aufs Biografische. Zwei sächsische Schriftsteller, literarisch erfolgreich und auf politische Einmischung aus: Lukas Rietzschel, 28, und Uwe Tellkamp, 54.

"Tisch" und "frisch": Gesprächsverweigerung in Reimform

Einig waren sie sich nur in zwei Punkten: Zum einen gestanden sie, dass jeder in seiner eigenen Blase lebt, die die eigenen Ansichten bestätigt. Dass aber jeder auch an anderen Auffassungen interessiert ist und neugierig auf fremde Lebenswirklichkeiten, ist selbstverständlich. Rietzschel erzählte das am Beispiel einer Görlitzer Suppenküche, wo er regelmäßig mitarbeite. Tellkamp brachte als Beispiel seine Medienlektüre, die von rechts bis links reiche, von der Zeitschrift Sezession bis zum Netzwerk Indymedia. Außerdem bestelle er gelegentlich Dinge bei Amazon, die er nie bestellen würde. So meint er Algorithmen zu überlisten, die nur immer das Bekannte verstärken.

Einig waren sich beide Schriftsteller in einem zweiten Aspekt: Junge Leute sollten ein Pflichtjahr absolvieren, um gegenteilige Meinungen kennenzulernen. Während Rietzschel dabei vor allem an Pflegeheime oder Kindergärten dachte, warb Tellkamp für die Wehrpflicht. Die Bundeswehr sei der letzte Ort, wo sich Menschen unterschiedlicher Schichten miteinander befassen müssten. „Eine gesunde Verteidigungsbereitschaft gehört zu einer gesunden Gesellschaft.“ Da dürften einige ältere Semester im vollen Frauenkirchenparkett geschluckt haben.

Wenn schon das Hören kaum gelingt, wie kann sich dann ein Gespräch entwickeln? Wenn einer seine Thesen vom Blatt singt? Wohl kaum. Und schon gar nicht, wenn sie lyrisch verkleidet werden: Natürlich kannst du alles sagen, doch musst du Widerstand ertragen. Tellkamp reimt Recht auf schlecht, Tisch auf frisch und Staatstheater auf Wurstelprater.

Und ewig fallen die DDR-Vergleiche

Gedichte gehören zu seinem Werk von Anfang an, und Wilhelm Busch hätte sicher viel Freude an den neuen Versen. Mit dem Kunstgriff wird möglichen Einwänden der Wind aus den Segeln genommen: Hier hat man es mit Literatur zu tun, und die darf alles. Selbst rote Linien des Strafrechts mag Tellkamp nicht gelten lassen, denn die seien interpretierbar. Und wenn er das jetzige System mit der DDR vergleiche, geschehe das zu Recht: „Eine ausgewachsene Diktatur war auch mal ein Embryo.“

Es kostet die Moderatorin einige Mühe, um den Autor von seiner Reimarbeit abzuhalten. „Wussten Sie die Fragen schon, weil Sie so gut vorbereitet sind?“, fragt Rietzschel. „Ich blicke nicht in die Karten. Das war zu erwarten“, schnarrt Tellkamp. Es ist nicht das einzige Mal, dass sich der Autor aus Görlitz an seinen Schriftstellerkollegen aus Dresden wendet. Rietzschel ist spürbar interessiert, spricht von Bewunderung, bedauert, dass der andere geschnitten werde. Eine ähnliche Zuwendung gibt es von Tellkamp nicht.

„Wie viele Meinungen verträgt die Wirklichkeit?“

Ob man von Geschnittenwerden reden kann nach seinen Auftritten im Dresdner Stadtmuseum, in Hamburg, Potsdam, Kamenz oder in der sächsischen Dependance in Berlin, nach zahllosen Rezensionen des jüngsten Romans, ist fraglich. Wie viele Schriftsteller sprachen schon in der Frauenkirche? „Wie viele Meinungen verträgt die Wirklichkeit?“, so der Titel der Veranstaltung. Uwe Tellkamp nennt als sein Ideal Speakers’ Corner. In dieser Ecke im Londoner Hyde Park darf jeder sagen, was er will, solange es nicht um die Monarchie und die königliche Familie geht.

Die Leute hören zu oder gehen vorbei. Für die Bundesrepublik wiederholt Tellkamp gereimt und ungereimt seinen Vorwurf, dass genehme Meinungen in den „Leitmedien“ mehr Raum bekommen als jene, die nicht ins vorgegebene politische Raster passen. Da werde mit zweierlei Maß gemessen. Wer nicht gendere, nicht trans sei, bunt und weltoffen und den Klimawandel bezweifle, werde ausgegrenzt. Zu Corona-Zeiten seien Journalisten von PR-Beratern der Regierung ins Kanzleramt bestellt worden, um sich die geltenden Sprachregelungen abzuholen.

„Der Künstler ist hier nur der Narr“

Als die Rundfunkjournalistin Alexandra Gerlach diese Behauptungen entschieden zurückweist, schwenkt Tellkamp um: Journalisten brauchten solche Anleitung gar nicht, weil sie schon linientreu seien. Aus den Rundfunkkanälen töne ihm „Nazi-Sprech“ entgegen, wenn Kritiker als Schwurbler oder Covidioten bezeichnet würden. Dabei nennt er selber den NS-Vergleich „die härteste aller Keulen“.

Der Beifall im Kirchenraum gilt mal der einen und mal der anderen Seite. „Der Künstler ist hier nur der Narr“, sagt Tellkamp. Rietzschel zeigt für Politiker Verständnis. Die Corona-Zeit sei für sie nicht leicht gewesen. Er sei dankbar, dass es überhaupt Leute gibt, die das politische Geschäft auf sich nehmen

„Muss das so scharf sein, so diffamierend, so vergiftend?“

Für Lukas Rietzschel zählt zur freien Meinungsäußerung, dass auch jene zu Wort kommen können, die sonst kaum gehört werden. Postmigrantische Milieus nennt er als Beispiel. Doch die Debatten seien nicht nur vielstimmiger geworden, auch rauer. „Muss das so scharf sein, so diffamierend, so vergiftend?“, fragt er. „Manchmal schreien wir die Leute zu.“ Ihn koste es viel Energie, die immer neuen Streitthemen zu verfolgen. Aus „emotionalem Selbstschutz“ klinke er sich zuweilen aus. Mehr Humor und Empathie wünscht er sich für die Debatten.

Davon ist in der Frauenkirche wenig zu spüren, als die Autoren über Gendersprache und die Existenz des Klimawandels streiten. Tellkamp lehnt beides ab. Rietzschel fragt, ob sein Gegenüber überhaupt von Argumenten zu überzeugen sei oder generell skeptisch. Tellkamps Antwort: Wenn sein Sohn ihn frage, ob er das Land verlasse, sage er nein, er bleibe hier – „denn hier ist alles, was ich hasse“.