"Blind ist nicht blöd": Was ein Sehbehinderter von jungen Menschen in Dresden erwartet

Dresden. Darf man mit einem Blindenhund ins Krankenhaus? Ja, man darf. Zumindest für einen Besuch. Vor allem, wenn man jungen Menschen etwas Wichtiges zu sagen hat. So wie Andreas Schneider. An einem Freitag im Mai kommt er mit seinem Hund Morricone in die Uniklinik, sie gehen über Treppen, durch Türen hindurch, vorbei an Stuhlbeinen und Tischkanten.
In einem Raum der Carus Akademie, dem Bildungsanbieter der Uniklinik, stehen die beiden dann vor knapp 30 Schülerinnen und Schülern, die später in der Pflege arbeiten wollen. "Das ist mein sehendes Auge", sagt Schneider über seinen Hund. "Mein Navi." Sein Publikum lacht. Der 64-Jährige ist fast vollständig blind, aber er hat ein Gespür dafür, wie er seine Zuhörer erreicht.
Schneider ist der amtierende Vorsitzende des Blinden- und Sehbehindertenverbands Sachsen. Dass er ein Problem mit den Augen hat, fiel schon in der Schulzeit auf. Damals bekam er eine dicke Brille, ausgelegt für minus 12 Dioptrien - er galt als stark kurzsichtig. Doch dabei blieb es nicht. Später, er war Anfang 20, entdeckten Ärzte bei ihm den Grünen Star. Nach und nach verlor er sein Augenlicht.
Und nun hat ihn die Uniklinik eingeladen. Seine jungen Zuhörer gehören zu einer neuen Generation von angehenden Pflegekräften. Nach ihrer Ausbildung sind sie europaweit einsetzbar. Zudem lernen sie nicht nur auf einem Gebiet - Senioren, Kinder oder Kranke - sondern auf allen. "Von der Frühgeburt bis ins hohe Alter", wie ihre Fachlehrerin Steffi Noack sagt.
"Sie müssen auch wissen, wie man mit Blinden umgeht", so Noack weiter. "Wir dachten, wir brauchen mehr Praxis im Unterricht." Das soll an diesem Tag passieren. Aber vorher gibt es ein bisschen Theorie.
Das Sturzrisiko steigt, das Selbstwertgefühl sinkt
Schneider ist nicht der einzige Redner. Sarah Smitkiewicz von Blickpunkt Auge, einer Beratungsstelle des Blinden- und Sehbehindertenvereins, erzählt den Pflegeschülern von typischen Missverständnissen im Alltag. Da geht man etwa über eine Straße, wird angerempelt und denkt: Kann der nicht aufpassen? Doch vielleicht, sagt Smitkiewicz, war der Rempler sehbehindert. "Nicht alle sind gekennzeichnet."
Verwirrung entsteht auch dadurch, dass die Sehfähigkeit schwankt. Wer nachts einen Blindenstock nutzt, braucht ihn nicht unbedingt tagsüber. Sodass sich andere Menschen womöglich die Frage stellen: "Simuliert der?"
Fakt ist laut Smitkiewich, dass 80 Prozent der Wahrnehmung auf die Augen zurückgeht. So zentral die Sehkraft für den Menschen ist, so dramatisch sind die Folgen, wenn man sie verliert. Das Sturzrisiko steigt, die Bedürftigkeit nimmt zu, das Selbstwertgefühl sinkt. Und viele Menschen isolieren sich, wenn sie erblinden.
Soweit die Theorie. Wie sich Blindheit anfühlt, lernen die Schüler im Praxisteil. An einem Tisch setzen sie Augenmasken auf und versuchen, Wasser aus einer Tasse in eine Flasche zu füllen. Andere spielen blind "Mensch ärger dich nicht", mit speziell präpariertem Würfel und Spielbrett. Dabei kommen sie schnell an ihre Grenzen: Wo ist der Würfel? Ist das eine Sechs? Das macht keinen Spaß! Willkommen in der Welt von Andreas Schneider.

"Ich war früher ein Bücherwurm"
Schneider ist aber auch ein Beispiel dafür, dass Blindheit ein Leben nicht ruinieren muss. Was zum einen daran liegt, dass er nicht plötzlich blind geworden ist. Er konnte sich nach und nach darauf einstellen. Zum anderen hat er das Glück, nicht allein leben zu müssen. Seine Frau unterstützt ihn im Alltag. Aber: "Man braucht für alles viel mehr Zeit", sagt er. "Die größte Herausforderung ist das Essen." Einmal bekam er einen Berg Geschnetzeltes im Restaurant. Er wäre fast daran verzweifelt.
Über die Jahre hat Schneider viel Technik angeschafft, um selbstständiger zu werden. Eine Brille mit integrierter Kamera und Sprachfunktion sagt ihm, welche Gegenstände sich vor ihm befinden. Stuhl, Tisch, Fenster, Blumenvase, Mensch - all das erkennt das Gerät. Auch Lesen ist kein Problem. "Ich war früher ein Bücherwurm. Ich hab Literatur gefressen", erzählt Schneider. Heute lässt er sich Texte von einem kleinen, schwarzen Apparat vorlesen, der die Größe eines Smartphones hat.
Und wie sollten sich Pflegekräfte nun verhalten, wenn sie in der Klinik auf Blinde treffen, die sie nicht kennen? Auf jeden Fall nicht so, wie Schneider es schon oft erlebt hat: Wortlos anpacken und dann zur Seite zerren. Das würde die Blinden massiv verunsichern, sagt er, zumal das oft Menschen seien, die ohnehin schon wenig Selbstbewusstsein hätten.
Dabei ist der Erstkontakt gar nicht so schwer. Man stellt sich vor, bietet einen Arm an und führt die Blinden. Und bitte, bitte die Betroffenen direkt ansprechen. "Blind ist nicht blöd", sagt Schneider. Die Schüler nicken.
Nach dem Seminar ist Schneider zufrieden. Das Interesse sei groß gewesen, sagt er. Vielleicht reagieren die Auszubildenden demnächst anders, wenn sie auf der Straße angerempelt werden. Oder auf einen orientierungslosen Menschen mit Stock treffen. Und wenn nicht, gibt es ja immer noch treue Freunde wie den Blindenhund Morricone.