Dresden
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Eine kleine Lüge bei der Sowjetarmee

Der Dresdner Fotograf Martin Hertrampf ist viele Jahre durch die ehemaligen Sowjetrepubliken gereist und hat mit der Kamera Geschichte(n) aufgespürt.

Von Nadja Laske
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In seinem neuen Buch zeigt der Fotograf Martin Hertrampf, wie sichtbar das Vergangene in Russland, Weißrussland, Litauen, Georgien und der Ukraine auch 30 Jahre nach der politischen Wende noch ist.
In seinem neuen Buch zeigt der Fotograf Martin Hertrampf, wie sichtbar das Vergangene in Russland, Weißrussland, Litauen, Georgien und der Ukraine auch 30 Jahre nach der politischen Wende noch ist. © René Meinig

Dresden. An das Scheppern der Scheiben in den Fenstern kann sich Martin Hertrampf noch gut erinnern. Es war der Klang der 80er Jahre. Zumindest einer davon. "Ich wohnte damals in er Neustadt. Da rollten nächtelang Panzerkolonnen der Sowjetarmee durch, von Kaserne zu Kaserne", erzählt der 56-Jährige.

Die Truppen des scheidenden Großen Bruders zogen nach Mauerfall und Wiedervereinigung über Jahre aus der DDR ab, auch die Dresdner Kasernen wurden geräumt. Martin Hertrampf versuchte sich gerade als freiberuflicher Fotograf und hatte im Wendejahr sein Theologiestudium begonnen. Nicht zwingend, um wie sein Vater Pfarrer zu werden, sondern weil er es konnte. Etwas anderes studieren durfte er zunächst nicht. Auch das Abitur blieb ihm verwehrt. Für den Sohn eines Mannes der Kirche hatte der sozialistische Staat keine akademische Verwendung.

Eine Mischung aus Neugier, Entdeckergeist, kreativer Energie und Unbedarftheit zog ihn regelmäßig an abseitige Orte, die Geheimnisse tragen und Geschichten erzählen. Immer bei sich trug er seine Kamera, auch an jenem Tag, als er ohne lange nachzudenken durch ein offenes Kasernentor spazierte. Er hatte keine Menschenseele wahrgenommen und sich einfach vom Sog der Spannung ziehen lassen.

Ukraine
Ukraine © Martin Hertrampf

Rettung aus der Parallelwelt

"Plötzlich sah ich durch das Objektiv eine Gestalt durchs Bild rennen und wurde im nächsten Moment wie aus dem Nichts angebrüllt." Die sowjetische Garnison war noch gar nicht aufgelöst, und der jugendliche Eindringling sah sich einem tobenden Befehlshaber mit wichtigen Schulterklappen gegenüber.

Hätte Martin Hertrampf damals getan, was man von ihm verlangte, wäre das Gerassel der Panzerketten auf den zerrütteten Straßen der Dresdner Neustadt wohl nie wegweisend für ihn geworden. Das Kasernentor wäre hinter ihm ins Schloss gefallen, und von dem Abenteuer jenes Nachmittags würde bis heute nichts bleiben, als eine Erinnerung. Wahrscheinlich noch nicht einmal das.

Aber der Anfang 20-Jährige war ebenso clever wie erschrocken. Als er den sowjetischen Hausherren seinen Film aushändigen sollte, griff er zu einem Trick: "Ich habe ihn in der Kamera zurück gespult und konnte glaubhaft machen, dass ich noch gar nichts fotografiert hatte." Was er auf diese Weise mit aus der seltsamen Parallelwelt rettete, wurde die Grundlage eines lange währenden, einmaligen Fotoprojektes.

Russland
Russland © Martin Hertrampf

Viele Jahre, Erfahrungen und Reisen später legt der Fotograf ein in feines Leinen gebundenes Buch auf den wettergegerbten Gartentisch hinter dem abgelegenen Haus, in dem er heute mit seiner Familie lebt. Der Band vereint Arbeiten, die in den ehemaligen Sowjetrepubliken entstanden sind - in Russland, Weißrussland, Georgien, Litauen, der Ukraine.

Nach dem Erlebnis im Dresdner Truppenstützpunkt hatte Martin Hertrampf an höchster Stelle die Erlaubnis erwirkt, den Abzug der Sowjetarmee aus Dresden fotografisch zu begleiten. "Ab dann bin ich ihr regelrecht hinterhergereist", sagt er.

Aus den Fotos jener Ereignisse Anfang der 1990er Jahre entstand die erste Ausstellung des Fotografen. Sie war 1992 im Militärhistorisches Museum unter dem Titel "ОТКУДА? КУДА?" zu sehen, auf Russisch "Woher? Wohin?". Die Fotoarbeiten veranlassten die Professoren der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst wenig später, Martin Hertrampf zum Studium zuzulassen. Auch ohne Abitur.

Georgien
Georgien © Martin Hertrampf

Mit der "Horizont" in Kaliningrad

Nach dem Diplom gewährte ihm ein Stipendium ein ganzes Jahr Zeit, sich seinen Themen künstlerisch zu widmen und dafür durch Länder zu reisen, die nach dem Ende der Sowjetunion Aufbruch und Trauma zugleich erlebten: "Landschaften, in denen die Vergangenheit - der Zweite Weltkrieg und ganz besonders die sowjetische und postsowjetische Kultur - noch immer und förmlich in Schichten sichtbar ist." Gerade das Erbe der sozialistischen Jahrzehnte sei dort noch viel sichtbarer, als man das in den hiesigen Breiten kenne.

Man müsse als Fotograf nicht nur ganz genau hinschauen, sondern auch gut zuhören können, sagt Martin Hertrampf. So findet er das Unsichtbare im Gespräch, in der Beobachtung, in der Schlussfolgerung. Er folgt Häuserzeilen, Parkwegen und Bahnlinien, auf der Suche nach dem Woher und Wohin, entdeckt, hält fest, ergründet - und belässt im Unklaren, wenn es seiner Kunst dient. Die Frage "Was ist das?", mag den Betrachter dann und wann bewegen. Hertrampf stellt sie nicht oder lässt sie stehen und das Konservierte wirken.

In Kaliningrad hockt er gut eine Stunde still an der selben Stelle einer Unterführung und lässt die Menschen an sich und seiner Kamera vorbeigehen. "Ich habe auf dieser Reise mit der russischen Panoramakamera 'Горизонт' fotografiert", sagt Martin Hertrampf. Auf Deutsch heißt das Horizont. Der Fotograf hat sein aktuellen Buch danach benannt.

Russland
Russland © Martin Hertrampf

Diese Kamera erlaube kaum Fokussierung und fängt dank ihres breiten Blickwinkels oft zwei, drei Geschichten gleichzeitig ein. Während der Fotograf sein Augenmerk auf einen Mann, der Schifferklavier spielt, legt, hält die Kamera ein biertrinkendes Paar und vorbeieilende Passanten am Rande der Szenerie ebenfalls fest. "Das entdecke ich oft erst, wenn ich das Foto entwickelt habe."

Wer ist der Protagonist, wer geriet zufällig dazu? Das Staunen und Erkunden überträgt der Fotograf mit jedem Bild auf den Betrachter. Dessen Blick kann durch berührte Natur und gezeichnete Stadtlandschaften wandern, in den Lebensmoment der Menschen eintauchen, mit auf Reisen gehen, immer der Frage nach: Woher kommen Sie? Wohin gehen sie?

Der Fotoband "Горизонт" ist im März in einer Auflage von 300 Stück erschienen und kann über die Website www.fotografie-hertrampf.de bestellt werden.

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