Long Covid: "Ich bin mit Panikattacken wach geworden"

Dresden. Die Skala müsste im Minusbereich starten. Dann fiele es Amrie leichter zu erklären, wie es ihr ging. Wo steht sie zwischen eins und zehn - so wird sie immer wieder ihr Befinden definieren. Auf null oder gar darunter fühlte sie sich nach ihrer Corona-Infektion. Die kam zunächst verträglich daher: Kopfschmerz und Frösteln. Irgendwie war der damals 29-Jährigen nicht wohl.
"Wir hatten Halloween gefeiert, und ich dachte, ich habe mich einfach nur verkühlt", erinnert sie sich an Anfang November 2020. Als jedoch Husten und Schmerzen in der Lunge dazu kamen, Atemnot ihr Angst machte, ging sie zum Arzt. "Meine Hausärztin hat sofort vermutet, dass ich Corona habe." Schnelltests gab es noch nicht. Das PCR-Ergebnis gab der Medizinerin recht.
Das Virus überschattete da bereits seit rund einem Dreivierteljahr das Leben. Der erste Lockdown hatte die Stadt förmlich leergefegt. Über den Sommer war ein wenig Normalität eingekehrt. Im späten Herbst 2020 wurden Stimmen für ein erneutes Herunterfahren des öffentlichen Lebens laut.
"Ich wusste genau, bei wem ich mich während der Arbeit angesteckt habe"
"Wir hatten damals kaum Desinfektionsmittel in unserer Praxis", erinnert sich Amrie Hartmann. "Auch Mund-Nasen-Schutz war immer noch knapp, sodass wir uns mit selbst genähten Stoffmasken helfen mussten." Als Physiotherapeutin hatte sie tagtäglich engen Kontakt mit Menschen. Sich vor dem Virus zu schützen, war schwer, zumal über die Notwendigkeit der Schutzmaßnahmen in Amries Kollegschaft keine Einigkeit herrschte.
Die Frage, wo sie sich infiziert haben könnte, brauchte sie sich nicht zu stellen wie viele andere Betroffene. "Ich wusste genau, bei wem ich mich während der Arbeit angesteckt habe. Das wurde sogar dokumentiert." Doch über viele Wochen beschäftigte Amrie etwas viel Wichtigeres: Warum erhole ich mich von meiner Krankheit nicht? Warum kann ich keine Treppen mehr steigen, ohne atemlos zu sein? "Nach fünf Wochen bin ich dann trotzdem wieder arbeiten gegangen, habe aber nur gut einen Monat lang durchgehalten."
Die hintergründige Präsenz des Erregers holte sie mit Herzrasen, Schwindelanfällen und schwerer körperlicher Abgeschlagenheit ein. Wenn Amrie davon erzählt, fällt ihr das nicht leicht. Diese große Unsicherheit von damals fühlt sie noch nachträglich. Man wusste nicht annähernd so viel wie heute über Wirkung und Folgen einer Infektion. Auch kannte nicht jeder eine Menge Menschen im eigenen Umfeld, die ebenfalls erkrankten. Was ist normal? Was bedrohlich?
Amrie ist immer sportlich gewesen. Kampfsport war ihre Disziplin. Einmal nicht zu erreichen, was sie sich vornimmt, an Grenzen der eigenen Kraft zu stoßen, das kannte sie vom Sport durchaus. Doch ihrem Körper nicht vertrauen zu können, war eine ganz neue Erfahrung. "Nachts bin ich oft mit Panikattacken wach geworden." Da habe sie sich gefragt: Was, wenn das nie wieder gut wird?
Fehlendes Verständnis für Erkrankung
Aufgrund einer Herzmuskel- und Lungenentzündung verbrachte sie sechs Monate daheim. Damit nicht ernst genommen zu werden, war hart. Umso mehr wog der Rückhalt in Familie und Freundeskreis. Aber ausgerechnet dort, wo sie sich trotz der dauernden Corona-Bedrohung ihren Patienten gewidmet hatte, vermisste sie Verständnis.
Im Jahr 2022 würde niemand mehr mit klarem Verstand infrage stellen, dass Menschen unabhängig von Alter und üblicher Leistungsfähigkeit über lange Zeit an den Folgen Coronas leiden. Was hinter den weitgehend synonymen Begriffen Long Covid und Post Covid steht, ist bekannt und in der Medizin eine Diagnose. Der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin zufolge haben etwa zehn Prozent der ehemaligen Corona-Patienten mit Langzeitfolgen zu kämpfen.
Konzentrationsschwäche und Wortfindungsstörungen gehörten bei Amrie genauso dazu, wie Herz- und Lungenerkrankung. Medikamente gegen ihre Herzmuskelschwäche einzunehmen, das wollte die nun 31-Jährige nicht.
Einer, dem es ähnlich ging und der nach harmlos erscheinenden Infektionen sich selbst nicht mehr kannte, ist ihr Trainer Carsten Krzysztofek. Er litt an Bluthochdruck und Kurzatmigkeit und musste sich fragen, wo seine gewohnte körperliche Belastbarkeit geblieben war. Dem Organismus zuallererst mit sogenannten Betablockern beizuspringen, die Blutdruck und Herzfrequenz senken, lehnte auch er ab.
"Amrie war kurzatmig und schnell erschöpft"
Als Diplomsporttherapeut weiß der 44-Jährige, was gezielte Bewegung bewirken kann und testete dieses Herangehen an sich. "Meine eigenen Covid-Erkrankungen haben mich einmal mehr davon überzeugt, dass es auch anders und besser geht." Medikamente müssen nicht unumgänglich sein.
"Als Amrie zu mir in den Rehabilitationssportkurs kam, musste sie während des Kurses häufig Pausen einlegen. Sie war kurzatmig und schnell erschöpft", sagt er. Über die Zeit von rund fünf Wochen besserte sich ihr Zustand deutlich, sodass sie schließlich die 45-minütigen Kurse gut durchhielt.
Drei Wochen in einem Rehazentrum lagen da schon hinter ihr. Folgend bekam sie das Rezept für ein weiterführendes sporttherapeutisches Programm. Im k.c. Rehasport Dresden e. V. fand sie das entsprechende Angebot. "Für das Training mit Covid-Patienten eignet sich die Ausstattung des Sportzentrums XXL Dresden besonders gut", sagt Vereinsvorstand Carsten Krzysztofek.
Amrie begann, einmal pro Woche zu trainieren. Das für Long-Covid-Patienten empfohlene, körperliche Training umfasst individuell angepasst Kreislauftraining, Koordinations- und Kraftübungen sowie Gehtraining in Halle und Gelände mit Bällen, Reifen oder anderen Sportgeräten. "Dabei überwachen die Patienten unter meiner Anleitung ihre Belastungsgrenzen", so der Sporttherapeut.
"Nach drei Monaten hatte ich die Fitness, mit dem Rad zur Arbeit zu fahren"
Ziel sei es, das Herz-Kreislauf-System anzuregen, die Lungenfunktion zu stärken, das Immunsystem zu aktivieren und die Bewegungsfähigkeit zu verbessern. Diese körperlichen Komponenten führen auch dazu, dass sich die Patienten psychisch stabiler fühlen und in der Gemeinschaft Kraft tanken.
Sechs bis sieben Wochen dauerte es, bis sich Amrie in der Verfassung fühlte, zweimal die Woche zu trainieren. Auf körperliche Anstrengung folgt üblicherweise tiefe Erschöpfung. "Das ist ganz normal", sagt Carsten Krzysztofek, "Um diesen Effekt abzubauen und eine ausgewogene Leistungsfähigkeit zu erreichen, wäre es sinnvoll, zwei- bis dreimal wöchentlich zu trainieren."
Amrie brachte zum Sportkurs mit, was unabdingbar für eine erfolgreiche Behandlung ist: Ehrgeiz und Regelmäßigkeit. Ohne die Bereitschaft dazu hätte sie sich mit Unterstützung ihres Trainers wohl nicht in die Lage gebracht, wieder arbeiten zu gehen. "Nach drei Monaten hatte ich die Fitness, mit dem Rad zur Arbeit zu fahren, wie ich es vor meiner Erkrankung immer gemacht habe", erzählt sie.
Mit ihrem gesundeten Körpergefühl und dem Wissen, ihrer Leistung wieder trauen zu können, ist sie neue Pläne angegangen. Amrie hat den Arbeitsplatz gewechselt und absolviert berufsbegleitend eine Ausbildung zur Osteopathin. Auf einer Skala von eins bis zehn fühle sie sich jetzt im Bereich sechs oder sieben. "Ziel ist die zehn."