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"Ich will mich für meine Trauer nicht rechtfertigen"

Seit dem Tod ihres Sohnes leidet Dorit Fritsche an Schuldgefühlen und Verzweiflung. Sie braucht Beistand, doch ihren tiefen Schmerz versteht nicht jeder.

Von Nadja Laske
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Dorit Fritsche bedauert, dass es so wenige Angebote der Trauerbegleitung gibt und der Tod aus dem Leben verbannt bleibt. Zu ihrem gehört er seit dem Verlust ihres Sohnes dazu.
Dorit Fritsche bedauert, dass es so wenige Angebote der Trauerbegleitung gibt und der Tod aus dem Leben verbannt bleibt. Zu ihrem gehört er seit dem Verlust ihres Sohnes dazu. © René Meinig

Dresden. Letztens auf dem Friedhof trieb der Wind eine kleine weiße Feder durch die Luft. "Ricardo, bitte gib mir ein Zeichen", hatte Dorit Fritsche gebeten und wie so oft die Antwort gehört: Ach Mama, ich habe dir doch schon so viele Zeichen geschickt!

"Nur ein ganz kleines!", hat sie gefleht und den feinen Flaum entdeckt. Eine Flocke, die vom Himmel flog. Da war sie beruhigt und konnte nach Hause gehen.

"Ich spreche mit meinem Sohn, und er antwortet mir auch", sagt Dorit Fritsche. Das klinge vielleicht seltsam, aber es gehe ihr gut damit. Besser als in Gesellschaft der realen Mahner, die ihr sagen, dass es nun mal gut sein müsse mit der Trauer.

Im November des vergangenen Jahres ist Ricardo gestorben. Er war 21 Jahre alt. Immer fröhlich, immer optimistisch, immer überzeugt: Ich werde gesund. Zumindest bis zu dieser letzten Woche, die Dorit Fritsche bis heute nicht versteht.

"Mama, warum ich?"

"Schon als Baby haben die Ärzte einen Tumor in seinem Kopf entdeckt", erzählt die Mutter. Ein gutartiges Gewächs, das sich zunächst kaum auswirkte. Doch als Ricardo sieben Jahre alt war, nahm sich die Geschwulst mehr Platz und eine zweite kam hinzu. "Es war eine heikle Operation, bei der ein Teil des Tumorgewebes entfernt werden konnte, aber Ricardo hat alles gut überstanden." Vom Eingriff und der folgenden Bestrahlung blieb nur ein kahler Fleck am Hinterkopf. Nach der OP habe er zum ersten und zum letzten Mal gefragt: "Mama, warum ich?", erinnert sich die 49-Jährige.

Schule, Ausbildung, Job als Verkäufer in einem Getränkemarkt - Ricardo habe alles super geschafft, seine Arbeit geliebt und das Familienleben mit Mutter und Schwester. Sohn, Bruder, Freund, Kollege, Fußballfan. Ein junges Leben, wie es Millionen gibt.

Immer fröhlich, immer optimistisch - so will sich Dorit Fritsche an ihren Sohn Ricardo erinnern. Doch die schmerzlichen Bilder überwiegen in ihr und stürzen sie in große Verzweiflung.
Immer fröhlich, immer optimistisch - so will sich Dorit Fritsche an ihren Sohn Ricardo erinnern. Doch die schmerzlichen Bilder überwiegen in ihr und stürzen sie in große Verzweiflung. © privat

Als sich Anfang 2019 eine Augenmuskellähmung bemerkbar machte, war Dorit Fritsche alarmiert. "Die MRT-Untersuchung hat zunächst ergeben, dass der Tumor nicht weiter gewachsen sei, doch der Augenarzt nahm trotzdem an, dass die Lähmung damit zu tun hat." Hoffnung und Entsetzen, viele Untersuchungen und schließlich doch die Nachricht: Die Krankheit gibt keine Ruhe, sie kämpft von innen ohne Rücksicht und Gnade. Ende jenen Jahres wurde eine weitere Operation nötig, noch komplizierter und gefährlicher als die vorangegangene.

Die Monate danach erlebte Dorit Fritsche ihren Sohn als Kämpfer wie nie zuvor. Seine Sinne besserten sich. "Er gab sich drei Monate für Genesung und Reha, dann wollte er unbedingt wieder arbeiten gehen." Selbst die Nachricht, das Tumorgewebe habe sich in ein bösartiges Karzinom verwandelt, konnte ihn nicht davon abbringen. Ein chemotherapeutisches Medikament sollte helfen und tat es nicht. Der Krebs machte sich im ganzen Körper breit.

Als ihr ein Arzt riet, für ihren Sohn einen Palliativmediziner zu suchen, hat Dorit Fritsche ihn nicht verstanden. Als man ihr sagte, es gebe nichts, was ihr Kind rettet, hat sie es nicht verstanden. "Ich habe die ganze letzte Woche, die bis zum Ende noch blieb, nicht verstanden, was wirklich passiert." An einem frühen Novembermorgen ist Ricardo gestorben, daheim in seinem Bett bei seiner Familie. Sie hätte rechtzeitig begreifen müssen, denkt sie heute. Dann hätte sie mit ihm über den Abschied sprechen können.

Doch der Tod, so nah er auch ist, bleibt oftmals aus dem Leben verbannt. "Als Kind hat mich brennend interessiert, was nach dem Tod kommt", erinnert sich Dorit Fritsche. Wirklich gesprochen habe mit ihr darüber niemand, und auch sie selbst hat später dieses Schweigen weitergegeben. Heute fühlt sich das nicht mehr richtig an.

Die Tage und Nächte voller Angst und Schrecken, qualvoller Sorge und Ohnmacht ziehen immer wieder durch sie hindurch. Alle Etappen der Krankheit, das Bangen und Leiden, die Zuversicht und die Zerstörung lassen sie nicht los. "Ich muss immerzu darüber sprechen", sagt Dorit Fritsche. "Ich brauche das."

Doch ihr Umfeld will es nicht. Sechs Wochen nach Ricardos Tod mochte der Hausarzt Dorit Fritsche nicht mehr krankschreiben. Trauer sei keine Diagnose, hieß es. "Lach doch mal!", sagen Freunde. "Warum weinst du denn schon wieder?", fragt selbst die Familie. Versuche doch dies, tu mal jenes. Ratschläge über Ratschläge, wohlmeinende Worte erreichen Dorit Fritsche nicht.

Endlich Beistand gefunden

"Wie lange darf Trauer denn dauern? Trauere ich noch oder bin ich depressiv?" Je weiter für die anderen das Leben ging, desto mehr stellte sie sich diese Fragen und ging auf die Suche nach Hilfe. "Ich habe mir Bücher gekauft, nach Beratung beim Hospizdienst gefragt, das Internet durchforstet, einen Psychologen besucht." In Facebookgruppen traf sie trauernde Mütter, bei denen sie sich verstanden fühlte. Und sie fand einen Halt, für den sie besonders dankbar ist.

Ricardo und auch seine ältere Schwester wurden über Jahre vom Team des Sonnenstrahl e. V. betreut. Er unterstützt Familien krebskranker Kinder während deren Behandlung, danach und auch über den Tod hinaus. "Ich bin einfach nicht von selbst darauf gekommen, dass ich mir dort Hilfe suchen könnte", sagt Dorit Fritsche. Erst als die Vereinszeitung bei ihr im Briefkasten lag und sie anrief, um sie abzubestellen, erfuhren die psychosozialen Berater von Ricardos Tod und den seelischen Nöten seiner Mutter.

Seitdem kommt Dorit Fritsche regelmäßig zum Gespräch in die Villa Sonnenstrahl auf der Goetheallee. In Remo Kamm hat sie einen ebenso kompetenten wie mitfühlenden Beistand gefunden, der sie durch die schmerzliche Zeit begleitet. Seit acht Jahren arbeitet der Diplompsychologe und Psychoonkologe mit verwaisten Eltern und Geschwistern.

In dem Psychologen Remo Kamm vom Sonnenstrahl e. V. hat Dorit Fritsche einen hilfreichen Begleiter gefunden. Seine Arbeit und die seiner Kollegen soll nun ein Benefizkonzert unterstützen.
In dem Psychologen Remo Kamm vom Sonnenstrahl e. V. hat Dorit Fritsche einen hilfreichen Begleiter gefunden. Seine Arbeit und die seiner Kollegen soll nun ein Benefizkonzert unterstützen. © René Meinig

"Die Art zu trauern und die Dauer der Trauer sind sehr individuell", sagt er. Gefühle der Leere, der Schuld, der tiefen Verzweiflung gehören dazu, und jeder Mensch gibt ihnen unterschiedlich viel Raum. Die einen suchen Rituale, die anderen meiden Erinnerung. Ein richtig und falsch gibt es dabei nicht.

Dorit Fritsche beginnt, dies anzunehmen. "Ich will mich nicht ständig rechtfertigen müssen, wenn ich traurig bin und es mir schlecht geht", sagt sie. Ihren Weg zurück in ein neues Leben, für das sie sich stark genug fühlt, bestimmt sie allein. Niemand kann ihn für sie gehen und keiner ihn abkürzen.

Am 16. Juli musizieren Kinder- und Jugendchöre sowie das Junge Kammerorchester Dresden für krebskranke Kinder und Jugendliche in der Dresdner Kreuzkirche. Das Benefizkonzert des Sonnenstrahl e. V. beginnt 19 Uhr. Es erklingen Werke verschiedener Komponisten, unter anderem von Antonin Dvorak, Joseph Haydn und Johann Sebastian Bach. Der Erlös kommt der sozialen und psychologischen Beratung betroffener Familien zugute. Der Eintritt kostet 14 bzw. 17 Euro, Tickets gibt es unter www.sonnenstrahl-ev.org, per Mail an [email protected] und telefonisch unter 0351 31583900.