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Dresdner Nachtcafés: "Wir sind da für die Menschen da draußen"

Gerd Grabowski kam nach der Wende als Manager in den Osten, heute verschafft er Obdachlosen in Dresden einen warmen Schlafplatz. Warum es ihn erfüllt, Menschen in Not zu helfen.

Von Nora Domschke
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Gerd Grabowski koordiniert die Dresdner Nachtcafés, die Obdachlosen eine warme Mahlzeit und einen trockenen Schlafplatz bieten.
Gerd Grabowski koordiniert die Dresdner Nachtcafés, die Obdachlosen eine warme Mahlzeit und einen trockenen Schlafplatz bieten. © Sven Ellger

Dresden. Wie viel christliche Barmherzigkeit er wirklich in sich trägt, entdeckte Gerd Grabowski erst im Ruhestand. Als er vor zwölf Jahren "der Liebe wegen" nach Dresden zog und hier mit ein wenig Malerei ein ruhiges Rentendasein genießen wollte, überredete ihn ein Freund dazu, sich in der Gemeinde der Zionskirche zu engagieren. Seitdem hilft der heute 75-Jährige jeden Freitag im Nachtcafé, das viel mehr ist, als ein Café.

Sieben Kirchgemeinden bieten Wohnungs- und Obdachlosen an sieben Tagen in der Woche ein warmes Essen und eine Übernachtungsmöglichkeit in ihren Räumen an. In der Zionskirche ist Platz für 25 Menschen, meistens kommen zwischen zehn und 15, erzählt Gerd Grabowski. Bis zum Ruhestand habe er mit sozialem Engagement nicht viel am Hut gehabt, und auch dann sprang der Funke nicht sofort über. "Ich wollte eigentlich malen und Holzschnitte anfertigen, also lehnte ich zuerst ab." Doch der Gedanke ließ ihn nicht los, die neue Herausforderung reizte ihn doch irgendwie.

"Ein Bericht über Wohnungslose hat mich sehr berührt"

Nachdem er in einem Gemeindebrief einen Bericht über Wohnungslose in Dresden gelesen hatte, war die Entscheidung gefallen. "Ich war so berührt davon, wie und warum Menschen auf der Straße leben. Da stand fest, dass ich ihnen helfen will." Es war eine Kehrtwende in seinem Leben. Im Job war der Diplom-Ingenieur in den Jahren zuvor im internationalen Management für den Elektrotechnik-Riesen Philips tätig.

Nach der politischen Wende verließ der gebürtige Oldenburger seine Heimat im Westen und arbeitete in verschiedenen Städten im Osten. Für den Konzern sanierte er alte DDR-Werke wie das Funkwerk in Köpenick, in dem er die Produktion von schnurlosen Telefonen auf den Weg brachte. In Dresden lernte er später seine Frau kennen, für die er 2010 in die sächsische Landeshauptstadt umzog. "Ich wollte sowieso immer in den Osten, meine Familie hat Wurzeln in Schlesien, meine Mutter kommt aus Guben."

Anstatt die Ruhe im Ruhestand zu genießen, warf sich Gerd Grabowski in seine neue Aufgabe. Er kann sich noch gut daran erinnern, als er 2010 zum ersten Mal beim Nachtcafé dabei war und versuchte, zaghaft Kontakt zu den Obdachlosen zu knüpfen. "Ich fühlte mich immer weltgewandt und offen, aber da war ich zum ersten Mal richtig verlegen. Was fragt man solche Menschen? Was wollen sie preisgeben und was lieber für sich behalten?"

Schnell stellt Gerd Grabowski fest: Diese Menschen sind sehr offen, machen aus ihrer Situation kein Geheimnis. Er hört von Trennungen, Alkoholsucht, Arbeitslosigkeit. So oder in anderer Reihenfolge laufe das meistens ab - und ende in der Wohnungslosigkeit. Vor allem Männer seien davon betroffen, Frauen waren vor zwölf Jahren die absolute Ausnahme. "Inzwischen sind es mehr geworden."

"Manchmal hilft schon ein offenes Ohr"

Woran das liegt, könne er nicht genau sagen. Normalerweise finden Frauen schneller eine Lösung, bevor sie ihre Wohnung verlieren. Schon allein deshalb, so Grabowski, weil sie ein anderes Hygienebedürfnis hätten. "Vielleicht sind diese Lösungen heute schwerer zu finden", vermutet er. Ohnehin frage er sich, warum es nicht noch mehr Obdach- und Wohnungslose in Dresden gibt. "Pro Jahr werden etwa 650 Räumungsklagen ausgesprochen, 400 werden umgesetzt. Wo sind diese Menschen alle?" Wie viele Obdachlose es tatsächlich in Dresden gibt, ist unklar.

Längst nicht jeder, der keine eigene Bleibe hat, lebt auf der Straße. Einige kommen bei Familie und Freunden unter, viele sind in mehreren Städten unterwegs. Dass jemand bewusst aussteigt und freiwillig auf eine Wohnung verzichtet, sei selten. Obwohl Grabowski einen solchen Aussteiger kennengelernt hat. "Er liebte die Freiheit, wollte aber lieber für sich sein." Gut die Hälfte seiner Schützlinge sind Deutsche, die anderen kämen vor allem aus dem EU-Ausland, erzählt er.

Grabowski hat viel gesehen und gehört in den vergangenen zwölf Jahren. Zeitweise arbeitete er auch bei der Telefonseelsorge, dort waren die Schicksale mitunter noch heftiger, sagt er. "Aber es mich geprägt und ich profitiere bei meiner Arbeit im Nachtcafé davon." Anderen zu helfen, wenn auch manchmal nur mit einem offenen Ohr, das fülle sein Leben mit Sinn.

Seit 25 Jahren Nachtcafé in der Zionskirche

Seit 1995 öffnen evangelische und katholische Gemeinden in Dresden über das Winterhalbjahr am Abend ihre Räume. An jedem Wochentag ist eine bestimmte Gemeinde dran, freitags öffnet das Nachtcafé in der Zionskirche. In diesem Jahr feiert die Gemeinde in der Dresdner Südvorstadt 25-jähriges Nachtcafé-Jubiläum. Vor 27 Jahren startete das ökumenische Hilfsprojekt in der Dreikönigskirche.

Das Konzept hatten zuvor Studenten der Evangelischen Hochschule entwickelt, die entsetzt waren, als sie für eine Seminararbeit zu den Lebensbedingungen von Dresdner Wohnungs- und Obdachlosen recherchierten. Sie verfassten ein Manifest, das sich auf die Grundzüge der christlichen Barmherzigkeit beruft, und schickten es an alle Gemeinden in der Stadt. Mit dem Aufruf, Menschen in Not zu helfen, sodass sie überleben - auch einen frostigen Winter.

Nach und nach schlossen sich weitere Gemeinden an: die Christophoruskirche in Laubegast, die katholische Pfarrei Heilige Familie in Kleinzschachwitz, die Gemeinde in Loschwitz sowie die Immanuelkirche in Cotta und die Katholische Pfarrei St. Franziskus in der Albertstadt. Pro Gemeinde und Saison sind etwa 35 Helfer im Einsatz, in ganz Dresden sind es fast 250.

Abends gegen 19 Uhr gibt es für die "Gäste" ein warmes Essen, am Morgen ein Frühstück, über Nacht einen Schlafplatz. Wer will, kann duschen oder auch Wäsche waschen. Einige kommen nur zum Reden und nutzen den Schlafplatz gar nicht. Für den Rundum-Service wird ein Euro pro Person fällig.

Vorschriften werden immer strenger

Inzwischen hat sich vieles geändert, erzählt Gerd Grabowski. Die Hygieneregeln sind strenger, weshalb einige Essenspender wie das St.-Joseph-Stift und das Studentenwerk abgesprungen sind. In einer Saison habe er mit einem weiteren Helfer für 40 Menschen gekocht, inzwischen ist der Luby-Service aus Leuben als Lieferant für die Zionskirche eingesprungen. Auch etliche Dresdner Bäcker halten nach wie vor zur Stange, geben regelmäßig Brot, Brötchen und Kuchen ab, kostenlos.

Die Coronazeit mit strengen Abstands- und Hygieneregeln bezeichnet Gerd Grabowski als "Ochsentour". "Wir mussten die Plätze reduzieren und brauchten mehr Personal." Das sei hart gewesen.

Immerhin: Was in Dresden nicht nachlässt, so Grabowski, ist die Hilfsbereitschaft - weder bei den Menschen vor Ort in den Nachtcafés, noch bei den Spendern. "Ohne sie wäre das alles nicht möglich."