"Ich hatte eine halbe Million im Kofferraum"

Dresden. Bilder der Flut 2002 zeigen das Ersichtliche: Hausdächer im Wasser, verzweifelte Menschen, Schlammmassen auf Straßen und Plätzen. Doch auch im Unsichtbaren herrschte die Katastrophe. Unter Kellergewölben, in Kisten und Aktenschränken Dresdner Archive.
Für diese verborgenen Zerstörungen war Thomas Kübler als Leiter des Dresdner Stadtarchivs zuständig. Welche immense Herausforderung das bedeutet, wie er die Tage der Jahrhundertflut als Oberarchivar und auch ganz privat erlebte, davon spricht er mit der SZ in Erinnerung an die Ereignisse vor 20 Jahren.
Herr Kübler, Flut 2002: Welcher Gedankenblitz zuckt durch Ihren Kopf?
Stille. Diese verstörende Stille, an die sich ganz viele Dresdner erinnern. Kaum ein Auto fuhr. Das Leben schien erstorben. Und auf der anderen Seite doch der Lärm der Sirenen und Helikopter über der Stadt. Erst weit später fällt mir ein, dass ja auch mein eigener Keller unter Wasser stand. Aber angesichts dessen, was in diesen Tagen auf uns zurollte, war das eine Nebensächlichkeit.
Was genau kam auf Sie als Amtsleiter zu?
Unsere Aufgabe war es, so schnell und umfassend wie möglich alle vom Hochwasser betroffenen Archive dieser Stadt vor Überflutung zu schützen oder zu evakuieren. Das betraf rund 80 Archive, große und kleine. Nicht alle konnten wir retten.

80 Archive? Welche waren die wichtigsten?
Der erste Einsatz rief die Mitarbeiter des Stadtarchivs und mich nach Friedrichstadt, wo die Weißeritz am 12. August das Krankenhaus geflutet und dessen Archiv unter Wasser gesetzt hat. In Gefahr waren Tausende Patientenakten. Die mussten so schnell wie möglich raus aus Nässe und Dreck. Im damaligen Wehrkreiskommando haben wir unzählige Meter Leinen geholt und die Dokumente wie Wäsche aufgehängt. Die nächste riesige Herausforderung war die Einwohnermeldedatei.
Das bürokratische Gehirn der Stadt?
Genau! Die Arbeitsgrundlage der Mitarbeiter für jeden verwaltungstechnischen Vorgang. Egal, ob jemand einen neuen Personalausweis braucht oder einen Umzug meldet, die Informationen sind dort gebündelt. Allerdings war die Digitalisierung damals ja noch auf einem ganz anderen Stand als heute. Das heißt: Es ging um Aktenschränke und Registraturen voller Papiere.
In welchem Zustand haben sie dieses Archiv vorgefunden?
Als die Flut die Altstadt erreichte, stand es in 40 Zentimeter hohem Wasser und begann aufgrund der Hitze innerhalb eines Tages zu schimmeln. Das Papier war so aufgequollen, dass sich die Metallschränke nicht mehr öffnen ließen. Um sie aufzustemmen, brauchte es hydraulische Technik. Im Hof des Amtsgebäudes in der Theaterstraßen haben wir alles mit Wasser abgespritzt, um so schnell wie möglich den Schlamm loszuwerden, der sonst in kürzester Zeit steinhart geworden wäre.

Welche Chance haben verquollene, triefnasse, verschmutzte Dokumente denn noch?
Sie mussten umgehend mit Lkw nach Kamenz in ein Kühlhaus gebracht und dort auf minus 18 Grad schockgefrostet werden. Auf diese Weise waren sie erst einmal so präpariert, dass der Verfall damit aufgehalten werden konnte. Später, als die Mittel dafür bereitstanden, wurden sie in einem speziellen Verfahren wieder aufgetaut. Der Erfolg: Es gab kaum Verluste, die Daten über jeden Bürger waren gesichert. Es folgten Akten, die im Rathauskeller archiviert waren, Schularchive, Röntgenbildarchive, Museumsarchive und viele mehr.
Wohin kamen Sie zu spät?
Unter anderen konnten wir Teile des Archivs der Sportschule auf der Palucca-Straße nicht retten. Auch im Haus der Presse versanken die archivierten Fotobestände und Zeitungsbände in den Fluten. Aber rund 80 Prozent der betroffenen Archive konnten wir retten. Dass das Stadtarchiv auf der Elisabeth-Boer-Straße nicht vom Hochwasser betroffen war, ist ein riesiges Glück. Seit der Jahrhundertflut sammeln wir dort alles, was diese Tage dokumentiert: Fotos, Schriftverkehr, Objekte und Erfahrungsberichte.
Wie ist ein amtliches Archiv auf einen solchen Katastrophenfall vorbereitet?
Es gab einen Notfallplan für Naturkatastrophen und technische Katastrophen, wie Explosion und Feuer. Außerdem arbeiten die Amtsleiterinnen und Amtsleiter eng mit dem Katastrophenstab zusammen und übernehmen neben ihren eigentlichen Bereichen noch zusätzliche organisatorische Aufgaben. Ich war für die offizielle Sandsackschaufelstation auf dem Bischofsplatz zuständig.

Das Jahr 2002 - eine Zeit ohne Handys, Internet, Facebookgruppen. Wie funktionierte das?
Internet und Handys gehörten wirklich noch nicht zum allgemeinen Leben der Dresdner. Aber eine Kreisverwaltung in Hessen bot Dresden als erste Hilfe 500 Nokia-Handys an. Die brachte ein Übermittler zur Autobahnabfahrt Wilsdruff. Also bin ich mit meinem privaten Toyota da hin und habe sie samt Sim-Karten übernommen. Damit hatte ich im Prinzip eine halbe Million Euro im Kofferraum. Stadtverwaltung, Feuerwehr, Polizei, THW und Krankenhäuser warteten schon sehnsüchtig auf die Mobiltelefone, die ihnen die Kommunikation extrem erleichterten.
Und dann zurück zum Sandsackschaufeln?
Sozusagen. Zu dieser zentralen Stelle kamen jeden Tag unzählige Helfer und füllten die Säcke, damit Bürger und Institutionen sie dort für den Schutz ihrer Objekte abholen konnten.
Nach all diesen Erinnerungen - was ist Ihnen ganz besonders eindrücklich geblieben?
Die große Unsicherheit, was der nächste Tag bringt und womit wir noch zu kämpfen haben werden. Natürlich die Rettung der Archive als nicht nur historisch, sondern auch ganz individuell und persönlich bedeutsam für jeden Menschen. Am beeindruckendsten aber, weil am schönsten: Mitten im Sandsackgeschippe habe ich die freiwillige Helferin Anca kennengelernt, die heute meine Frau ist.