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"Extrem steigende Zahl an seelischen Problemen"

Dresdens Jugendamtsleiterin Sylvia Lemm spricht über die Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche und wofür die Stadt jetzt Geld locker macht.

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"Die Familien erleben wir mittlerweile als belastet und pandemiemüde", sagt Dresdens Jugendamtsleiterin Sylvia Lemm im SZ-Interview. Es gebe eine extrem steigende Fallzahl an Kindern und Jugendlichen mit seelischen Problemen.
"Die Familien erleben wir mittlerweile als belastet und pandemiemüde", sagt Dresdens Jugendamtsleiterin Sylvia Lemm im SZ-Interview. Es gebe eine extrem steigende Fallzahl an Kindern und Jugendlichen mit seelischen Problemen. © Symbolbild: Patrick Pleul/dpa

Dresden. Anderthalb Jahre dauert die Corona-Pandemie nun schon an. Geschlossene Schulen und Kitas brachten Kinder und Eltern an ihre Grenzen. Dresdens Jugendamtsleiterin Sylvia Lemm spricht im SZ-Interview über steigende Zahlen bei Kindeswohlgefährdung und über fehlende Freiräume für Jugendliche.

Frau Lemm, die Pandemie ist noch lange nicht vorbei, sie legt nur gerade eine kleine Pause ein. Wie schwer wiegen jetzt schon die Folgen für die Dresdner Kinder?

Sehr schwer für Kinder und für Jugendliche. Die Tagesstruktur mit Kita und Schule fiel weg, plötzlich spielte sich alles zu Hause ab und das ließ in Familien, wo es ohnehin schon problematisch ist, Konflikte größer werden.

Viele Familien fühlten sich alleingelassen. Warum hat man hier vonseiten der Verantwortlichen nicht mehr darauf geschaut?

Diese Rückmeldung haben wir auch bekommen, die Familien erleben wir mittlerweile als belastet und pandemiemüde. Bei den Eltern gab es oft Existenzängste und sie fühlten die Doppelbelastung zwischen Homeoffice und Homeschooling sehr stark. Nicht immer konnten da die Bedürfnisse der Kinder komplett gestillt werden.

Sylvia Lemm leitet das Dresdner Jugendamt.
Sylvia Lemm leitet das Dresdner Jugendamt. © Sven Ellger

Welche Folgen gibt es für Kinder und Jugendliche konkret?

Wir registrieren eine extrem steigende Fallzahl an Kindern und Jugendlichen mit seelischen Problemen, die Kliniken in und um Dresden werden überrannt. Konkrete Zahlen liegen hier noch nicht vor, aber das beschäftigt uns. Viele entwickelten Schulangst, wollen nun nicht mehr gehen. Und es gab signifikant steigende Zahlen bei den Kindeswohlgefährdungsmeldungen.

Gab es eine stärkere Betroffenheit der sozial benachteiligten Familien in der Pandemie?

Ja, hier ist der Nachholbedarf in Sachen Schule teilweise nochmal höher. Aber Schule ist nicht nur Mathe und Deutsch, sondern auch soziales und emotionales Lernen. Das fiel weg. Die Treffs und Jugendhäuser waren zu und die Sozialarbeiter konnten die Kinder und Jugendlichen trotz virtueller Angebote nicht mehr erreichen. Viele hingen nur noch zu Hause und beschäftigten sich den lieben langen Tag mit Videospielen.

Wie hoch sind die Zahlen konkret?

Wir registrierten im Jahr 2020 insgesamt 2.415 Meldungen über Kindeswohlgefährdung, im ersten Halbjahr 2021 waren es auch schon 1.462. Also 20 Prozent höher als letztes Jahr. Die Meldungen kommen aus der Schule, Kita, von Kinderärzten oder auch von Nachbarn.

Was genau wird gemeldet und was passiert danach?

Eine solche Meldung wird etwa gemacht, wenn das Kind von den Eltern vernachlässigt wird, Drogen und Alkohol im Spiel sind oder Gewalt und Missbrauch. In ganz akuten Fällen wird das Kind sofort aus der Familie geholt.

Und der Anstieg der Zahlen ist auf die Pandemie zurückzuführen?

Nicht nur, aber natürlich spielt die Belastung und die Krisensituation durch die Pandemie eine Rolle. Wir bemerken, dass wir nun auch Familien in der Familienhilfe unterstützen, mit denen wir vorher als Jugendamt nichts zu tun hatten. Familien aus der Mitte der Gesellschaft, die überfordert sind.

Was tut das Jugendamt nach einer solchen Meldung?

Wir überprüfen jede Meldung. In der Zeit der geschlossenen Kitas und Schulen kamen viele Meldungen aus der Nachbarschaft, das sind natürlich keine Profis wie Lehrer oder Erzieher, aber überprüft wird alles.

Müssen die Kinder aus den Familien genommen werden, kommen sie entweder in eine Bereitschaftspflegefamilie oder erst in den Kinder- und Jugendnotdienst. Dort war zuletzt die Personalsituation sehr angespannt. Wie ist aktuell die Situation?

Wir haben weiter vier offene Stellen, bekommen aber die Betreuung momentan gut abgedeckt.

Wir sprachen über die Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche. Der Bund stellt im Programm "Aufholen nach Corona" in Summe zwei Milliarden Euro zur Verfügung, wie viel bekommt Dresden davon und was passiert mit dem Geld?

Sachsen bekommt rund 114 Millionen davon, 88 Prozent fließen in den Bereich Schule. Diese Verteilung sehe ich kritisch, 50/50 hätte es sein müssen. Kinder sind mehr als Schulkinder, wir brauchen auch Geld für die präventive Jugendhilfe, also für die Kinder in der Freizeit und nicht Schule. Für den Bereich Jugendhilfe bekommen wir als Jugendamt Dresden zunächst 80.000 Euro. Ich hoffe, dass wir das Geld bald zur Verfügung haben.

Was passiert denn mit dem Geld?

Ich möchte das Geld gerne in Ferienfreizeiten und Ferienlager für Kinder und Jugendliche stecken. Die Kinder müssen dringend mal raus. Hier bin ich mir mit dem Jugendhilfeausschuss einig, ein notwendiger Beschluss dazu ist schon gefasst.

Aber es gibt noch mehr Baustellen. Bräuchte nicht zum Beispiel auch jede Dresdner Schule einen Schulsozialarbeiter?

Das stimmt. Wir brauchen an jeder Schule Sozialarbeiter. Da sind wir noch nicht. Wir haben momentan an 72 Schulen Schulsozialarbeit, viel an den Oberschulen. Ich sehe aber an allen Schulformen Bedarf, auch an Grundschulen, Gymnasien und Berufsschulen.

Woran scheitert es?

Am Geld. Der Freistaat hat im neuen Doppelhaushalt eine Schippe draufgelegt, wir werden schauen, wie weit es reicht.

Sie sagten, Kinder und Jugendliche seien mehr als Schüler. Aber fehlen nicht gerade für diese beiden Gruppen Orte in Dresden? Orte, an denen sie nicht immer gesagt bekommen, dass sie stören wie am sogenannten "Assi-Eck" und im Alaunpark in der Neustadt oder auch an der Elbe?

Wir brauchen Freiräume für Jugendliche, keine Frage. Wir sind da dran. Sportplätze an ausgewählten Schulen sollen zunächst mit Sommerferienbeginn bis in den Herbst hinein geöffnet werden, alle Treffs und Jugendhäuser haben wieder offen.

Und wo sollen sie sich am Abend treffen?

Auch dafür suchen wir Lösungen. Wir sind im Gespräch zusammen mit Jugendhilfeausschuss, den freien Trägern und Sozialarbeitern, ob man nicht freitags die Treffs länger als bis 18.30 Uhr öffnen könnte oder auch am Wochenende.

Die Fragen stellte Julia Vollmer.