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Wie ein altes Orchester so jung sein kann

Wenn das Haydn-Orchester Dresden seine Jubiläumskonzerte zum 70. Geburtstag spielt, trennen zwei Musiker glatt 60 Jahre. Das ist nicht die einzige Besonderheit.

Von Nadja Laske
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Helen Lindemann ist mit ihren 21 Jahren die jüngste Musikerin im Ensemble, Herwald Spielhagen mit 81 Jahren eins der ältesten. Beide freuen sich auf das erste Konzert nach mehr als zwei Jahren.
Helen Lindemann ist mit ihren 21 Jahren die jüngste Musikerin im Ensemble, Herwald Spielhagen mit 81 Jahren eins der ältesten. Beide freuen sich auf das erste Konzert nach mehr als zwei Jahren. © Sven Ellger

Dresden. Welche Ansprache braucht das Herz, damit seine Bindung in die richtige Bahn gerät? Sollte es überhaupt jemanden geben, der dazu etwas sagen kann, dann ist es Herwald Spielhagen: Aus seiner Tasche zieht der 81-Jährige eine kleine rechteckige Holzschachtel und klappt sie auf. Darin liegen, parallel ausgerichtet, drei Teilchen, die auf den ersten Blick an winzige Holzbeitel erinnern.

"Man sagt Rohr dazu", erklärt Herwald Spielhagen. Ohne diesen Bestandteil seines Instrumentes entstünde kein Ton. Doch mit den Mundstücken seiner Oboe hat es eine ganz besondere Bewandtnis. Der Musiker baut sie selbst, und das ist eine halbe Wissenschaft.

Seit 36 Jahren spielt der Wahldresdner mit Berliner Dialekt im Haydn-Orchester und ist einer der Ältesten unter den 56 Mitgliedern. "Als Kind habe ich Blockflöte gelernt. Die drei Mark für den Unterricht konnten sich meine Eltern gerade noch leisten", erzählt er.

Die Oboe - Eine Wissenschaft für sich

Irgendwann fragte er sich doch: Für welches Instrument will ich mich entscheiden, wenn es noch etwas anderes als die Blockflöte geben soll? Schließlich fiel seine Wahl auf die Oboe, er organisierte sich ein Leihinstrument und guten Unterricht. So konnte er während seines Studiums im Dresdner Universitätsorchester musizieren.

Nach Erfahrungen in weiteren Orchestern wurde das Haydn-Orchester seine musikalische Heimat. Wie allen anderen hat sie ihm in den letzten zwei Jahren viel zu lang gefehlt. Zum Schutz vor Corona musste der 81-Jährige die wöchentlichen Proben und Auftritte missen. Immer mal wieder hatte es Anläufe gegeben, während hoffnungsvoller Lockerungen der Regeln, doch Konzertprogramme zu erarbeiten.

Zum Auftritt kam es nie - zwei Jahre lang sah das Orchester kein Publikum. Umso größer ist nun die Aufregung und Freude: Am 30. April gibt das Dresdner Haydn-Orchester unter Leitung von Matthias Herbig sein erstes Jubiläumskonzert anlässlich des 70-jährigen Bestehens des Orchesters. Ein zweites folgt im Herbst. Zunächst stehen Filmmusiken auf dem Programm.

Endproben für das erste Jubiläumskonzert: Alles spielt nach Matthias Herbigs Taktstock - den er für seine Arbeit mit dem Haydn-Orchester nicht zwingend braucht.
Endproben für das erste Jubiläumskonzert: Alles spielt nach Matthias Herbigs Taktstock - den er für seine Arbeit mit dem Haydn-Orchester nicht zwingend braucht. © Sven Ellger

Das jüngste Orchestermitglied: Eine Klarinettenspielerin

Eine schöne Herausforderung auch für Helen Lindemann. Die Studentin fand zum Ensemble, als noch keiner etwas von Corona ahnte, obwohl es quasi schon vor der Tür stand - im Herbst 2019. Aus Braunschweig war sie nach Dresden gekommen, um hier Lebensmitteltechnik zu studieren. Auch für sie ist die Musik ein wichtiger Begleiter seit der Kindheit.

Statt für die komplizierte Oboe entschied sich die 21-Jährige nach langjähriger Verbundenheit mit der Blockflöte für die nicht minder anspruchsvolle Klarinette. Mit Staunen schaut die Jüngste im Orchester dennoch auf Herwald Spielhagen. Der erzählt davon, wie viel Pflege seine Oboe benötigt, damit ihre Töne so erklingen, wie es der Musiker verlangt.

In regelmäßigen Abständen zerlegt er sein Instrument in alle Einzelteile. "Schön ordentlich aufgereiht müssen sie werden, damit nach der Reinigung jedes wieder an seinen Platz zurückfindet." Am wichtigsten aber ist besagter Bau des Rohres, wie der Oboist das Mundstück nennt. Man muss Herwald Spielhagen wohl mehr als einmal aufmerksam zuhören, um sich merken zu können, woraus dieses Herzstück besteht, wie er es fertigt und zusammensetzt.

Helen kauft die Mundstücke für ihre Klarinette im Spezialgeschäft. Ihr Musikerkollege könnte das auch. "Aber ich baue sie lieber selbst, dann sind sie perfekt für mich", sagt er. Ob das etwas mit Alt und Jung zu tun hat? Nein eher nicht, sind sich alle am Tisch einig - wohl eher mit dem Instrument selbst. Die Oboe gilt eben als besonders.

Dabei ist allen bewusst: Jedes Instrument hat seine Besonderheit und seine Bedeutung im großen Orchester. Auch die Violine. Sie ist das am meisten vertretene Instrument. Dorothea Agsten spielt die Geige und gehört am längsten von allen dazu - seit 1970, das sind 52 Jahre!

So kennt sie auch die Geschichte des Haydn-Orchesters mit all ihren Facetten: "Wir sind mit unseren 70 Jahren das zweitälteste Laienorchester in ganz Sachsen", sagt die 74-Jährige. Gegründet 1952 stand es zunächst unter Schirmherrschaft der Medizinischen Akademie und später, bis zur Wende, als Arbeitersinfonieorchester unter Trägerschaft des VEB Robotron. Nach der Wiedervereinigung nahm es seinen ursprünglichen Namen, Haydn-Orchester, benannt nach dem österreichischen Komponisten der Wiener Klassik, Joseph Haydn, wieder an. Seiner Musik hatte es sich verpflichtet.

Ensemble mit offenen Armen - auch für Ukrainer

Seitdem vor 16 Jahren mit Musikdirektor Andreas Grohmann und Matthias Herbig zwei erfahrene Musiker und Dirigenten die Orchesterleitung übernahmen, hat sich der Klangkörper vergrößert und stetig verjüngt. Dass der Probenort barrierefrei erreichbar ist und auch Sprachprobleme kein unüberwindliches Hindernis sind, hat zum Erfolg beigetragen. Während der Corona-Zeit bekam das Orchester besonders viele neue Mitglieder. Dennoch sind neue Mitstreiter auch weiterhin herzlich willkommen.

Groß war die Freude, als kürzlich eine aus der Ukraine während ihres Dirigat-Studiums geflüchtete Musikerin in einer Probe das Orchester dirigierte. Das entspricht auch ganz der Tradition des Haydn-Orchesters, jungen Musikern die Chance auf einen solistischen Auftritt mit Symphonieorchester zu ermöglichen.

Dass Dorothea Agsten mehr als ein halbes Jahrhundert lang mit Leidenschaft im Haydn-Orchester spielt, hat für die Musikpädagogin unter anderem diesen Grund: "Die Kunst wasche den Staub von der Seele. Das hat Picasso einmal gesagt. Und so empfinde ich auch die Musik." Die Orchesterarbeit vertiefe ihre Beziehung zu ihr und gebe die Möglichkeit zu wunderbaren Erfahrungen und Erlebnissen, sagt sie - und spricht damit aus des Musikers Seele.

Mit etwas Glück können Schnellentschlossene unter www.haydn-orchester-dresden.de noch Restkarten für das erste Jubiläumskonzert am 30. April um 17 Uhr, in der JohannStadthalle, Holbeinstraße 68, kaufen. Unter der Leitung von Matthias Herbig erklingt "Musik aus Filmen - Filmmusiken". Das zweite Jubiläumskonzert ist für den 8. Oktober 2022, 17 Uhr, im Hygienemuseum geplant. Es titelt "Von Mythen und Sagen" und präsentiert Stücke von Mendelssohn Bartholdy, Gabriel Fauré, Camille Saint Saens und Joseph Haydn.