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Wildpflanzenführer in Dresden: "Ich betrachte meine Umgebung als essbar"

Wo andere nur Gestrüpp und Unkraut sehen, findet er Zutaten für köstliches Essen, sogar mitten im Großen Garten: Gauthier Saillard hat seinen Blick auf die Natur komplett verändert - auch aus Angst vor der Zukunft.

Von Christoph Pengel
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Jede zweite Pflanze im Großen Garten ist essbar. Auch die Beeren der Eibe, zumindest teilweise. Gauthier Saillard zeigt, worauf man dabei achten muss.
Jede zweite Pflanze im Großen Garten ist essbar. Auch die Beeren der Eibe, zumindest teilweise. Gauthier Saillard zeigt, worauf man dabei achten muss. © Marion Doering

Dresden. Rot ist giftig. Ein Warnsignal der Natur. Finger weg von roten Früchten! So habe ich das als Kind mal gelernt. "Das ist Quatsch", sagt Gauthier Saillard und pflückt sich eine Beere von der Eibe. Dann steckt er sie in den Mund. Wir stehen im Großen Garten, und ich überlege, wie weit es von hier bis zur nächsten Klinik ist.

Atemlähmung, Herzversagen - damit muss rechnen, wer auf den Früchten der Eibe herumkaut. Aber Gauthier Saillard, der Mann mit dem Schnauzer und dem französischen Akzent, lutscht genüsslich seine Beere. Er scheint gar nicht genug zu bekommen. "Wie Marmelade", sagt er schließlich und spuckt den Kern aus.

Wer mit Gauthier durch Dresden spaziert, erlebt den einen oder anderen Schock. Okay, das mit der Eibe mögen einige gewusst haben. Aber wer herausfindet, dass jede zweite Pflanze im Großen Garten essbar ist, wer feststellt, dass er jahrelang in einer kostenlosen Speisekammer gelebt hat und einfach nur zu blind war, um es zu bemerken - der kommt sich ganz schön blöd vor.

Gauthier wohnt in Bischofswerda, gibt aber regelmäßig Kräuterführungen in Dresden. Im Großen Garten greift er so selbstverständlich nach Zweigen und Blättern, als wären es Salzstreuer. "Ich betrachte meine Umgebung als essbar", sagt er. Was bei Gauthier heute locker und humorvoll wirkt, fing einst mit Angst an. Angst vor der Zukunft. Und auch die Geburt seines Sohnes spielte eine Rolle.

"Ich mache hier keine Show"

Dazu später mehr. Erst mal zurück zur Eibe. Ich soll jetzt auch eine Beere probieren. Ich zögere. Gauthier erklärt mir, dass ich bestimmt schon mal giftige Pflanzen gegessen habe. Kartoffeln zum Beispiel. Oder Tomaten. Der entscheidende Punkt sei gewesen, dass ich die richtigen Teile kannte. So ist es auch bei der Eibenbeere. Nur der Kern ist giftig, also nicht Draufbeißen, sondern mit der Zunge das rote Fruchtfleisch herunterzüngeln. Ich versuche es. Bin ich nervös? Ja. Ist es lecker? Ooh jaaa.

Jetzt hat er mich. Ich will weiter durch den Garten naschen. Noch was Krasses, bitte. Aber Gauthier lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. "Ich mache hier keine Show", sagt er. Beim Pflanzensammeln müsse man vorsichtig sein. Sein Wissen habe er sich autodidaktisch angeeignet, er habe viele Bücher gelesen, viele Pflanzen bestimmt und verspeist. Und am Anfang sei auch mal was schiefgegangen.

Die feinen Samen der Knoblauchrauke sind kaum zu erkennen. Sie schmecken wie Senf.
Die feinen Samen der Knoblauchrauke sind kaum zu erkennen. Sie schmecken wie Senf. © Marion Doering
Aus dem Nelkenwurz macht Gauthier Saillard leckeren Chai-Tee.
Aus dem Nelkenwurz macht Gauthier Saillard leckeren Chai-Tee. © Marion Doering
Eicheln lassen sich zu einer Art Mehl verarbeiten und zum Backen verwenden.
Eicheln lassen sich zu einer Art Mehl verarbeiten und zum Backen verwenden. © Marion Doering

Gauthier weiß nicht mehr, was er damals gesucht hat. Was immer es war, er verwechselte es mit den giftigen Blättern des Aronstabs. Nach dem Kauen, sagt er, habe es sich so angefühlt, als hätte er "Glasscherben im Mund". Ihm wurde übel. Doch er hatte Glück. Nach zwei Stunden war der Spuk vorbei. "Das war eine Lehre für mich", erzählt Gauthier. Seitdem versuche er, nicht nur zu 100, sondern "zu 120 Prozent" sicher zu sein, bevor er zubeißt.

Vor seiner Karriere als Kräuterführer hat Gauthier Naturfotografie studiert. Nebenbei befasste er sich mit Ökologie und dem Klimawandel. Was ihn irgendwann ziemlich deprimierte. Er bekam Angst, dass die Welt, so wie wir sie kennen, bald nicht mehr existiert. Dass Nahrung knapp wird. Nachdem sein Sohn zur Welt gekommen war, spürte er mehr Verantwortung und sagte sich: "Ich muss etwas anders machen."

Gauthier las, sammelte und aß, bis er sich sicher genug fühlte, um sein Wissen über Pflanzen mit anderen zu teilen. Auch mit seinem Sohn. Heute ist Gauthier 35 Jahre alt. Aus seiner Leidenschaft hat er einen Beruf gemacht. Er ist selbstständig und bietet nicht nur Wildpflanzen-Führungen, sondern auch Wildpflanzen-Kochkurse an.

So können Wildpflanzen-Gerichte aussehen. Aus dem, was Gauthier Saillard in der Natur findet, macht er Crêpes, Torten, Bratlinge und Dips.
So können Wildpflanzen-Gerichte aussehen. Aus dem, was Gauthier Saillard in der Natur findet, macht er Crêpes, Torten, Bratlinge und Dips. © Gauthier Saillard

Zudem arbeitet Gauthier mit dem Dresdner Ernährungsrat zusammen. Im Projekt "Essbare Stadt Dresden" gehört er zu den erfahrensten Pflanzen-Führern. Der Ernährungsrat entwickelt derzeit auch eine Web-App, um das essbare Dresden auf eigene Faust zu entdecken. Im Frühjahr 2023 soll sie erscheinen. Die App wird Nutzern verschiedene Routen und Informationen zu essbaren Pflanzen anzeigen.

Bis es so weit ist, kann man Gauthier bei seinen monatlichen Touren folgen. "Viele denken, die beste Zeit ist der Frühling. Aber es ist der Herbst", sagt Gauthier. Regen fällt, Wurzeln sind saftig. Und überall warten Blätter und reife Früchte. Gauthier sagt, er könnte von dem leben, was er in der Natur findet. Aber auch er geht einkaufen, um zu essen und zu kochen.

Im Großen Garten zeigt er mir noch ein paar Leckerbissen. Die roten Beeren des Weißdornes, die Kohlenhydrate enthalten und sich mehlig im Mund anfühlen. Die feinen Samen der Knoblauchrauke, die wie Senf schmecken. Und Eicheln, die man leider nicht roh essen kann.

Eicheln, sagt Gauthier, hätten das Potenzial, Weizen zu ersetzen. Man könne Mehl daraus machen. Oder Aufstrich. Oder, oder, oder. Nur die Verarbeitung sei nicht ganz einfach. Wie das funktioniert, zeigt er in seinen Kursen. "Mein Sohn liebt Eichelkakao", sagt er.

Informationen zu den Wildpflanzen-Führungen, zu Kursen und zur Anmeldung gibt es hier: www.zusammensammeln.de. Die nächste Wanderung in Dresden beginnt am Samstag, 29. Oktober, 16 Uhr im Carolapark. Wer mehr über das Projekt "Essbare Stadt" erfahren will, kann diesem Link folgen: www.essbarer-stadtteil.de.