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Nachfragen erlaubt: Wie Dresdner als "Lebendige Bücher" aus ihrem Leben erzählen

Feuerwehrmann, Jugendamtmitarbeiterin, Hospizhelferin, Enkelin, Auto-Abstinenzler lesen ganz persönliche Episoden - auch die Künstlerin Anna Lebiedzka, die ihre Heimat Polen nie verlassen wollte.

Von Nadja Laske
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Mit 26 Jahren verließ Anna Lebiedzka ihre Heimat. Die Europäische Union habe ihr die Welt eröffnet, sagt die Künstlerin.
Mit 26 Jahren verließ Anna Lebiedzka ihre Heimat. Die Europäische Union habe ihr die Welt eröffnet, sagt die Künstlerin. © Sven Ellger

Dresden. Stell dir vor, du hast eine halbe Stunde Zeit, ein Kapitel deines Lebens zu erzählen. Eine besonders schöne Episode, ein prägendes Erlebnis, einen Schlüsselmoment oder auch eine Sequenz ohne Überraschungseffekt und doch sinnbildlich für das, was dich ausmacht.

Stell dir vor, du nimmst dir eine halbe Stunde Zeit, das Kapitel eines anderen Menschen anzuhören - spannend, erstaunlich, belastend, vielleicht auch scheinbar belanglos.

Wer schon viele Geschichten erzählt bekommen und sie wieder erzählt hat, weiß: Keine ist wie die andere. Aber jede findet sich in der nächsten.

Was die Dänen können...

Erzählen, zuhören und wieder zuhören. Das ist das Geheimnis der Lebendigen Bibliothek. In Dresden gibt es sie seit 2021. Insgesamt viermal hat der Verein Familie(n)leben e.V., ehemals Kaleb, Lebensgeschichten auch für diejenigen lebendig werden lassen, die sie nicht selbst erlebt haben.

Das Projekt geht auf eine Idee aus Dänemark zurück. Intension der Initiatoren war es, Gewalt zu stoppen und Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen - selbst solche, die sich vermeintlich nichts zu sagen haben und einander eigentlich nicht zuhören wollen. Das Konzept machte die Runde immer dort, wo sich Menschen trafen, die einerseits einen gemeinsamen Nenner und doch viele Vorbehalte gegeneinander hatten.

Wissen entspannt Gemüter

Wissen macht Ah! Diesem Prinzip folgen die Organisatoren der Lebendigen Bibliotheken. Je mehr man von einem anderen weiß, desto besser kann man seine Gefühle, sein Äußeres, sein Auftreten, sein Sein nachvollziehen, verstehen, vielleicht verzeihen. Umso näher rücken sich die Erzählenden und Zuhörenden.

Damit Menschen wirklich miteinander reden, braucht es eine weitere Komponente: die Fragen. Nur Fragende hören aktiv zu und nur Gefragte fühlen sich wirklich angenommen. Deshalb gehört zu den Lebendigen Bibliotheken auch Zeit, um nachzuhaken, mehr zu erfahren, tiefer zu gehen.

Ala Elfjährige hat Anna Lebiedzka kleine Bücher gebastelt, geschrieben und illustriert. Schlümpfe standen für sie in ihrer Farbigkeit schon damals für die offene westliche Welt.
Ala Elfjährige hat Anna Lebiedzka kleine Bücher gebastelt, geschrieben und illustriert. Schlümpfe standen für sie in ihrer Farbigkeit schon damals für die offene westliche Welt. © Sven Ellger

Das dürfte sich am 16. September im Kleinen Haus von ganz allein ergeben. Dort werden insgesamt acht sogenannte lebendige Bücher erzählen. Die langjährige Mitarbeiterin eines Jugendamtes zum Beispiel, ein junger Mann, der aus Mosambik nach Dresden gekommen ist, ein Klimaschützer und eine Ehrenamtliche des Kinder- und Jugendhospizdienstes.

Wenn die Erinnerungen an die Zeit mit der geliebten Großmutter wach werden, aus dem Alltag der Berufsfeuerwehr berichtet wird und die Zuhörer erfahren, wie es ist, trotz großer Familie ohne Auto zurechtzukommen, dann wird sich kein Gast dieser besonderen Bibliothek langweilen und in den allermeisten erwacht Neugier.

Auch Anna Lebiedzka erzählt. Die ersten 26 Jahre ihres Lebens hat sie in ihrer Heimat Polen verbracht und nie daran gedacht, jemals ins Ausland zu gehen. Ihr Lebenskreis war vertraut, überschaubar und unfreiwillig begrenzt - bis zu dem Tag, als Polen Mitglied der Europäischen Union wurde.

"Das war vor genau 20 Jahren, und es hat das Leben so vieler meiner Landsleute verändert", sagt Anna. Plötzlich stand die Welt offen. Von einem Tag zum nächsten durften Polen legal im EU-Ausland leben und arbeiten.

Als studierte Kunstpädagogin hatte Anna Lebiedzka in einem Musiktheater gearbeitet und dort alles getan, was für ein kleines, privates Theater wichtig und nötig war: Bühnenbilder bauen und malen, Requisiten beschaffen, Dekorationen organisieren, Werbung machen und Besucher betreuen.

Siebenmonatskind mit Talent

Die Liebe zur Kunst hatte sie schon als Kind in sich gefühlt. "Mit elf Jahren habe ich kleine Bücher selbst gebastelt, Texte dafür geschrieben und Illustrationen gezeichnet." Zu dieser Leidenschaft hatte ihre Großmutter eine Theorie: "Sie hat erzählt, dass meine Mutter Wehen bekam, als sie gerade die Küchenschränke neu anstrich. So wurde ich ein Siebenmonatskind mit Liebe zum Malen und Zeichnen."

Ihr Faible und ihre Talente nahm Anna mit, als sie - wie Tausende Polen - mit EU-Beitritt ins Ausland ging, zunächst, um als Au Pair in Schottland zu arbeiten - ein halbes Jahr wollte sie bleiben, fünf Jahre wurden daraus. Jahre, in denen sie nicht immer Muße und Freiraum hatte für Kunst. "Um Geld zu verdienen, habe ich in einer Bäckerei und in einem Kiosk gejobbt", erzählt sie. Gern wäre sie geblieben, in diesem lauschigen Dorf am See. "Aber es war einfach zu schwer, verlässlich Arbeit zu finden."

Internationalität und Inspiration

Also ging sie nach Edinburgh - eine Kunststadt - und bekam dort die Möglichkeit, sich als Malerin und Fotografin einen Namen zu machen und an einer Vielzahl großer Kunstprojekte teilzunehmen. "Es war einfach großartig, die Internationalität, die Dichte an Kreativen und Inspiration zu erleben", schwärmt sie noch heute.

Doch die Liebe lockte sie auf einen anderen Weg. Anna lernte ihren Mann kennen und folgte ihm nach Dresden, eine Stadt, in der sie ihre Biografie mit vielleicht weniger auffälligen, aber vielen tiefsinnigen Werken bereicherte.

Als Familienmensch, Mutter, Künstlerin, Touristenführerin und Kursleiterin füllt sie nun ihr eigenes Lebensbuch und liest daraus als Teil der Lebendigen Bibliothek.

Die nächste Lebendige Bibliothek öffnet am 16. September, von 18 bis 21 Uhr im Montagscafé, Kleines Haus des Staatsschauspiels Dresden, Glacisstraße 28. Der Eintritt ist frei. Die Bibliothek bietet Übersetzungen für Spanisch, Polnisch, Arabisch, Portugiesisch, Russisch, Englisch, Zulu, Tsonga und Lettisch. www.familienleben-dresden.de