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Wahrheit und Krieg? "Ich bin ein Produkt der Sowjetunion"

Die Russlanddeutsche Rosa Borger aus Dresden misstraut den Berichten um den Ukraine-Krieg. Sie ist hin- und hergerissen: Wem kann sie glauben?

Von Luisa Zenker
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Die 77-jährige Rosa Borger lebt seit 25 Jahren in Dresden. Ein Porträt über eine Frau, die auf der Suche nach Wahrheit verzweifelt.
Die 77-jährige Rosa Borger lebt seit 25 Jahren in Dresden. Ein Porträt über eine Frau, die auf der Suche nach Wahrheit verzweifelt. © Marion Doering

Dresden. Rote Plastik-Ostereier hängen an kahlen Zweigen in einer braunen Vase. Vom Wohnzimmerschrank schauen Osterhasen auf einen Holztisch. Dort hat die Dresdner Rentnerin Rosa Borger für das Frühstück gedeckt. In einer Dreiraumwohnung mitten in der Johannstadt will sie über ihre Sicht auf den Ukraine-Krieg sprechen.

Eine Wurstplatte, Käse, Marmelade, Kaffee und Eierschecke hat sie dafür aufgetischt. "Das ist russische Gastfreundschaft. Alles, was da ist, kommt auf den Tisch. Das vermisse ich hier in Deutschland", sagt die 77-jährige Russlanddeutsche. Schwungvoll läuft sie durch die blitzblanke Wohnung. Das Alter sieht man ihr nur an den Lachfalten rund um die Augen an.

Vor 25 Jahren ist Rosa Borger von Kasachstan nach Dresden gezogen. Fast 50 Jahre Sowjetunion lagen zu der Zeit hinter ihr. Die Russlanddeutsche kann und will Putin nicht die Alleinschuld am Krieg geben.

"Meine deutschen Eltern haben als Arzt und Hebamme in der Wolgadeutschen Republik gelebt und gearbeitet. 1941 mussten sie dann in einen Zug steigen, der sie nach Sibirien deportierte", beginnt Rosa Borger ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Drei Jahre später, 1944 ist Borger in Sibirien mitten in einem kleinen russischen Dorf geboren worden, 600 Kilometer von der nächstgrößeren Stadt Omsk entfernt.

"In der Familie durfte nicht über Politik geredet werden"

Ihre Eltern, die eigentlich Deutsche waren, mussten von nun an Russen sein und Russisch sprechen. Deutsch hat Rosa Borger trotzdem gelernt. Sie erinnert sich daran, wie so mancher Russe die deutsche Minderheit mit dem Wort "Faschist" beschimpfte. Als sie ihren Vater darauf ansprach, hat er geschwiegen. "In der Familie durfte nicht über Politik geredet werden."

Erst 1964 wurden die verbannten Russlanddeutschen von der pauschalen Beschuldigung des Landesverrats freigesprochen - an ihre Heimatorte durften sie trotzdem nicht zurückkehren. Rosa Borger zog mit ihrer Familie in die kasachische Metropole Alma-Ata, die sich heute Almaty nennt. Zwischendurch hatte sie ein Studium der deutschen Sprache und Pädagogik abgeschlossen, um als Lehrerin zu arbeiten.

Statt Minus 40 Grad erlebte die Russlanddeutsche nun lange heiße Sommer. "Meine Schüler sollten Deutschland lieben", sagt sie und klatscht in die Hände, während sie ein Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe aufsagt. Sie nimmt einen Schluck Kaffee. "Hier zu Hause spreche ich nur Deutsch, außer wenn ich fluchen muss."

Mit dem Zerfall der Sowjetunion änderte sich das Leben der Lehrerin. 1992 zog ihr Bruder nach Deutschland, kurz darauf folgte die Schwester. Im Jahr 1997 folgte Rosa Borger ihrer Familie. "Die ganze kasachische Stadt war leer, jeder kehrte nach dem Zerfall der Sowjetunion zurück. Alle fuhren irgendwohin", beschreibt Borger das große Wandern der Nationen. Mit ihren zwei Kindern ging sie nach Dresden.

Hier Russen, dort Deutsche

In Deutschland durfte sie nicht arbeiten. "Mir wurde gesagt, dass ich aus einem Land komme, wo die Diktatur herrschte." Also nahm sie einen Job in einer Werkzeughalle an, schraubte Plastikautoteile am Band zusammen. "Das Leben in Deutschland war sehr viel teurer als in der Sowjetunion", sagt sie. In Deutschland musste Borger lernen: "Hier bin ich eine Russin, in der Sowjetunion war ich immer die Deutsche." Ihre Identität: ein Balanceakt.

Und auch jetzt ist ihr Blick auf Russland ein Hin und Her. Nach ihrer Biografie hätte die Rentnerin allen Grund, Russland den Rücken zu kehren. "Ich bin ein Produkt der Sowjetunion", sagt sie dennoch selbstbewusst. "Ich habe die Völkerfreundschaft kennengelernt und immer im Frieden ohne Egoismus gelebt."

Seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges hat sie mehrere Kilos abgenommen. "Meine Seele weint, mein Herz blutet", schreibt sie Mitte März in einem Brief an eine Freundin. Gemeinsam mit ihrer Tochter hat sie 14 Ukrainerinnen untergebracht. Und dennoch: Russland ist für sie kein Feind.

Auf der Suche nach den Fakten

Der Rentnerin sind die deutschen Berichte zu einseitig, sagt sie. Sie verfolgt ebenso die russischen Medien. "Ich sitze vor dem Bildschirm und frage mich. Wo ist die Wahrheit?" Sie weiß nicht, wem sie trauen kann. In den russischen Medien steht etwas ganz anderes als in den deutschen. Rosa packt mehrere Ausgaben der Sächsischen Zeitung auf den Tisch, mit Lineal hat sie Sätze rot und blau unterstrichen. Sie schaut Berichte im WDR, verfolgt die Tagesschau, aber auch Kanäle im Internet – unter anderem von den umstrittenen Wissenschaftlern Daniele Ganser und Michael Lüders. Pro Putin oder pro Westen? Sie mag keinSchwarz-Weiß-Denken, erklärt sie.

„Im Internet höre und sehe ich Bilder, zwölf ukrainische Soldaten sollen ihre Waffen niedergelegt haben. Das russische Militär soll sie aufgenommen haben. Sie konnten sich duschen, und ihre Familien anrufen.“ In der Sächsischen Zeitung hat sie davon nichts gelesen, sagt sie. Wahrheit? Oder Fake? Die Fakten verschwimmen vor ihren Augen. Wem kann sie glauben? Rosa geht es wie vielen Menschen in diesem Krieg der Bilder und Informationen.

Nicht immer ist auf den ersten Blick erkennbar, dass es sich um gefälschte Bilder handelt. Unabhängige, seriöse Quellen sind rar gesät in Zeiten des Krieges. Und gerade die russischen Medien gelten als Meister der Verschleierung und Desinformation. Deutschland sei nicht unabhängig, sagt Rosa, genauso wie andere europäische Länder.

Doch wer ist schon neutral in einem Krieg? "Allein Putin wird zum Sündenbock gemacht, um das eigene Versagen der westlichen Staaten zu vertuschen. Die Ukraine ist nur ein Spielball für die Geopolitik der Nato." Das ist ihre Sicht auf die Dinge.

"Putin hat dieses Land wieder aufgebaut"

Nach ihrer Erzählung ist Putin möglicherweise ein Aggressor, aber: "Auch die USA haben Verbrechen wie im Vietnamkrieg begangen." Dass in Russland eine Autokratie herrsche, könne ja sein, aber: "Putin hat dieses Land wiederaufgebaut, es ist verständlich, dass die Russen hinter ihm stehen." So sieht sie das.

Rosa hat seit 25 Jahren keinen Fuß mehr auf russischen Boden gesetzt. Wie sich das Leben dort veränderte, bekommt sie überwiegend über die Medien mit. Ihre Verwandten sind nach Deutschland ausgewandert. "Es wohnt nur noch eine Freundin dort", sagt sie. Hier in Deutschland gehe ein Riss durch so manche russische Großfamilie: Putin-Anhänger und Putin-Kritiker, die Familienharmonie steht vor der Zerreißprobe. Mit ihren Kindern aber bleibt sie im Austausch: "Ich sage immer, denkt nach, bildet euch in allen Medien."

Am Ende holt sie einen Schnaps raus, für sie gehört das zur russischen Gastfreundschaft. "Ich will einfach Frieden. Krieg ist immer ein Krieg, egal wer ihn führt", sagt sie. Ein Rosenlikör aus dem Erzgebirge, sie nimmt einen kleinen Schluck: "Auf die Völkerfreundschaft."