Laubegaster Werft: Einer, der alle Pleiten überstand

Dresden. Anlegen, festhalten, drehen. Mit leisem Akkubohrer-Surren versinkt die Schraube. Falk Naumann streicht über die Kanten der Holzleisten, die zusammen einen Vorhang-Rahmen ergeben. Dünne Edelstahltafeln sollen als Verkleidung an die renovierten Wände und die Decke kommen. Läuft es gut, ist die Kombüse des Raddampfers „Stadt Wehlen“ bis Mai einsatzbereit.
Noch liegt das älteste Schiff der Weißen Flotte auf der mit 123 Jahren ebenfalls hochbetagten Werft im Dresdner Stadtteil Laubegast und gleicht einer Baustelle. Im Salon des Unterschiffs stapeln sich Tische, Stühle, Werkzeuge und die ausgebaute Kücheneinrichtung. Ein Anblick, der Passagieren in der Saison verborgen bleibt. Die staunen unter Deck sonst über Details wie Eisenstützen, die an antike korinthische Säulen erinnern, oder grüne Wandleuchten, die mit Messingfassung wie britische Banklampen daherkommen. Werftleiter Falk Naumann kennt die Schiffe vor allem zerlegt, reparaturbedürftig, irgendwie unfertig. Und das seit 40 Jahren.
Mit 16 fing er als Tischlerlehrling an. Damals hatte die Werft mehr als 100 Mitarbeiter, allein 17 in der Tischlerei, erinnert sich Naumann. Heute sind sie nur noch zu zweit auf der Werft. Er kennt jeden der neun Flottendampfer in- und auswendig – deren Baujahre sich von 1879 bis 1929 erstrecken – und jedes polierte Relingholz, jede Kabinentür, jede Planke.
Pläne und Zeichnungen braucht der 56-Jährige nicht. „Wenn es ein Problem gibt oder etwas erneuert werden muss, mache ich das aus dem Kopf.“ Es gäbe auch niemanden, der sagen könnte, was zu tun ist. Jetzt sei eben mal die Küche fällig gewesen. „Aus dem Rumpf unter den Bodenplatten haben wir Rost rausgeholt, an den man über Jahrzehnte nicht rangekommen ist.“ Ein neuer Riffelblechboden mit Scharnieren ist nur ein sanfter Eingriff in die Konstruktion des 142 Jahre alten Oldies.
Besitzer wechseln - er bleibt
Falk Naumann hat bisher Glück gehabt, das weiß er. In einer ansonsten nahezu ausgestorbenen Industrie. Neue Besitzer und Pleiten wechselten sich in Laubegast ab. „Alle paar Jahre ist alles anders.“ Falk Naumann blieb wie seine Aufgabe. Er ist seit Jahren der Einzige, der die Slip-Anlage bedienen kann, mit der Elbdampfer und Salonschiffe aufs Land gehievt werden. Ein Job, der Augenmaß und Detailwissen verlangt wie etwa das Schiffsgewicht.
Für die „Stadt Wehlen“ müssen acht hydraulische Wagen auf Schienen unter Wasser bugsiert und synchron koordiniert werden, bevor der Koloss aufs Trockene gezogen wird. Mit einer Geschwindigkeit von 140 Metern pro Stunde. Bis heute genießt Naumann den majestätischen Anblick, wenn sich ein Schiff aus dem Wasser erhebt.

Bei einem Dampfer wie der „Wehlen“ müssen mehr als 30 Stahlböcke mit Holzbalkenauflage druntergeschoben und austariert werden, sagt Naumann. Absolute Maßarbeit. Der Dampfer darf ja bei der Reparatur später nicht kippeln. „Ich würde ja schon länger gern jemanden ausbilden, der das mal übernehmen kann“, sagt Naumann. Irgendwann werde auch er in Rente gehen. Krank sei man auch mal.
Naumann muss nachdenken, wie viele verschiedene Firmen er schon auf demselben Werftgelände erlebt hat. Bei der VEB Schiffsreparaturwerft Laubegast hatte er zu DDR-Zeiten angefangen. Nach der Wende übertrug die Treuhand den Betrieb dem Verbund Deutsche Binnenwerften. Die Pleite kam 1999 und der Verkauf an zwei Dresdner. Die übergaben fünf Jahre später an einen Rostocker, der einen Großauftrag über zwei gigantische Fähren für Kenia an Land zog, daran aber ebenfalls pleite ging.
2013 gegen die Lichter aus
2013 machte der Insolvenzverwalter die Werft dicht. Es war der dunkelste Moment in Naumanns Leben. Er ist damals sicher: Der Traumjob ist für immer weg. Naumann wird Hausmeister, bis der Multimillionär Reinhard Saal nur ein Dreivierteljahr später das Werftareal kauft und den Betrieb wenigstens ein bisschen wieder aufnimmt. Weil es ohne Fachmann nicht geht, stellt er Naumann ein, der 2015 mit der Werft zur „Sächsischen Dampfschiffahrt“ wechselt. 2020 mitten in der Coronakrise ist die Flotte pleite. Inzwischen gehört alles zum Schweizer Konzern United Rivers. Wegen Corona sind die Angestellten vom Kapitän bis zum Werftmann in Kurzarbeit, werkeln nur alle zwei Wochen.
Die Leidenschaft für die alten Dampfer ist ihm in die Wiege gelegt worden von Vater Peter, der als Kapitän und Einsatzleiter zu DDR-Zeiten bei der Weißen Flotte arbeitete. Ein verblichenes Schwarz-Weiß-Foto zeigt Falk Naumann im Alter von vier Jahren auf dem Dampfer „Diesbar“. Ein kleiner Junge, dunkler Matrosenanzug und weiße Mütze, sitzt im Drehstuhl auf der Kapitänsbrücke, die linke Hand am Ruder, den Blick aufs Wasser gerichtet. Daneben der 2015 verstorbene Vater.

Der „Junge Pionier“ war dann der Dampfer seiner Jugend, auf dem er in den Sommerferien als Schiffsjunge das Deck spülte, die Sitzbänke abwischte, die Leinen los machte und auf dem er mit 13 seinen ersten handgeschriebenen Heuerschein bekam, eine Art Zeugnis für Seeleute. Die Erwachsenen nannten ihn damals Leichtmatrose Pit. Zu dem Zeitpunkt kommandierte Vater Peter die Wehlen. Vielleicht ist die Küchensanierung im Unterdeck auch deshalb etwas Besonderes, weil der Senior hier immer schlief. Hier befanden sich bis zur Wende die Kajüten für den Kapitän und die Mannschaft, im Heck schliefen Boots- und Steuermann.
In den Anlauforten entlang der Elbe wie Riesa, Bad Schandau oder Schmilka blieben die Dampfer damals über Nacht. „Wenn man damals in einer Woche dreimal von Dresden nach Schandau fuhr, hieß das auch dreimal dort in der Kajüte schlafen.“ Eigentlich, sagt Naumann, wollte er selbst Kapitän werden, nur habe der Vater darauf bestanden, dass der Junge erst einen vernünftigen Beruf lernt. „Das hab’ ich gemacht“, sagt Naumann und grinst. Die Schiffstischlerlehrpraxis war in Roßlau, die Theorie an der Berufsschule in Naumburg. Das letzte halbe Jahr durfte er schon in die Laubegaster Werft.
Kapitän bleibt ein Traum
Wie man die dicken Kähne aus dem Wasser zieht, haben ihm damals die Altgesellen erklärt. Noch ist der Kapitänstraum nicht ausgeträumt. Die Voraussetzungen hat Naumann spätestens nach dem Wehrdienst an der Westberliner Grenze. Die Liebe durchkreuzt die Pläne. Mit zwei kleinen Töchtern ist die Werftarbeit mit geregelten Arbeitszeiten praktischer als der unkalkulierbare Abrufjob eines Käptns. „Ich bin hängen geblieben und hab’ es nie bereut.“ Er habe einen einzigartigen Beruf, bei dem kein Tag und keine Aufgabe gleich seien.
Mit seiner zuweilen knorzig anmutenden Wortkargheit könnte Falk Naumann auch gut als alter Seebär durchgehen. Große Worte zu ruhmreicher sächsischer Dampfschiffgeschichte sind nicht seins. Nicht einmal, wenn er ein paar Mal im Jahr Dampferpassagiere durch seine heiligen Hallen führt. Spürt er ehrliches Interesse, dann leuchten die Augen, wenn er über technische Details der Schiffe spricht. Seine Zuneigung zu den schwimmenden technischen Denkmalen, den Oldtimern der Elbschifffahrt, die drückt sich in der Akribie aus, der Präzision im Handwerk und der Liebe zu jedem noch so kleinen Detail.

In der Kombüse ist Naumann fertig. Jetzt müssen die Techniker ran – Öfen, Herde und Spülbecken installieren und die Kabel für die LED-Beleuchtung hinter den Stahlverkleidungen verschwinden lassen. Auch so ein altes Schätzchen muss hier und da modernisiert werden, um mit der Zeit zu gehen.
Falk Naumann hat noch Visionen, wie man Dinge an den Raddampfern optimieren könnte, „die 1992 bei der Rekonstruktion versaut wurden“. Technische Details wie den Hintereingang der Schiffe „Meißen“ und „Pillnitz“ in die Mitte zu verlegen und dafür den Decksalon für mehr Passagiere zu verlängern. „Aber das kostet natürlich ein bisschen Geld.“ In den 1990er-Jahren gab es noch hier und da Umbauten an den Dampfern, seither werden sie vor allem in Schuss gehalten.
Die gute alte Zeit hat Falk Naumann in seiner Schiffstischlerei konserviert. Neben der Tür trocknet noch der frisch lackierte neue Schiffsmast für die „Stadt Wehlen“. Naumann hat ihn aus einem dicken Kantholz mit der Hand zu einer runden Säule gehobelt. Der Eingangsbereich erinnert an ein Museum.
Eine Tafel mit Seemannsknoten, Modellschiffe, die Fotosammlung des Vaters und dessen alte Kapitänsuniform, die eine Schaufensterpuppe mit vorschriftsmäßiger Corona-Maske trägt. Auch ein Bild vom „Jungen Pionier“ hängt an der Wand. Der endete 2001 unterm Schneidbrenner. „Ich habe ihn selber mit verschrottet, obwohl ich immer gehofft hatte, dass er wieder fährt.“ Aber die Werft, seine gute alte Werft, die hat alle Wirren überstanden.