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„Ich war mental komplett fertig“

Der Dresdner Speerwerfer Johannes Vetter spricht über den frühen Tod seiner Mutter – und seine Weltklasse-Saison. Für ihn hängt beides zusammen.

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Johannes Vetter hat wieder Spaß an seinem Leben als Speerwerfer, und das sieht man dem gebürtigen Dresdner auch an. In diesem besonderen Jahr war er mit Abstand der weltweit Beste seiner Sportart.
Johannes Vetter hat wieder Spaß an seinem Leben als Speerwerfer, und das sieht man dem gebürtigen Dresdner auch an. In diesem besonderen Jahr war er mit Abstand der weltweit Beste seiner Sportart. © dpa

Er ist wieder da, und wie! Als einer der wenigen deutschen Weltklasse-Leichtathleten hat Speerwerfer Johannes Vetter sich in der Corona-Saison nicht versteckt, sondern stattdessen Weltklasseleistungen im Wochenrhythmus abgeliefert. Nach einer langen Verletzungspause ist der 27-Jährige sogar so gut in Form, dass er beinahe Weltrekord geworfen hätte.

Im exklusiven Interview mit der Sächsischen Zeitung erklärt Vetter, wie das möglich war. Und der gebürtige Dresdner, der für die LG Offenburg startet, erzählt offen wie selten zuvor über ein Familien-Schicksal, den Umgang damit – und wie das mittlerweile sein ganzes Leben verändert hat.

Herr Vetter, wie schätzen Sie diese für Sie in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche Saison ein?

Die Lösung für mich bestand einfach darin, dass ich gesund war. Ich hatte in den vergangenen anderthalb Jahren – also seit der EM 2018 – Verletzungsprobleme: erst mit einem freien Gelenkkörper im Fuß, dann Schmerzen im Ellenbogen. Wir konnten meine Technik wieder etwas umstellen. Aufgrund meiner Fußverletzung hatte sich mein technisches Leitbild verändert, weil ich versucht habe, weit zu werfen – und die Schmerzen im Fuß zu umgehen. Sonst wusste ich ja, dass meine Physis stimmt. Und dementsprechend wusste ich, dass es dieses Jahr für mich wieder über die 90 Meter geht. Mich ärgern die beiden Wettkämpfe, in denen ich nur 84 Meter geworfen habe. Das lag aber in Leverkusen am Belag, und in Offenburg hat der starke Gegenwind gegen mich gearbeitet.

Mit 97,76 Metern gelang Vetter in diesem Jahr der zweitweiteste Wurf überhaupt, nur 72 Zentimeter fehlten zum Weltrekord.
Mit 97,76 Metern gelang Vetter in diesem Jahr der zweitweiteste Wurf überhaupt, nur 72 Zentimeter fehlten zum Weltrekord. © dpa

Sie hatten in diesem Jahr lange Zeit Ellenbogenprobleme. Trotzdem war es Ihnen wichtig, in dieser nun vorolympischen Saison in den Wettkampfmodus zu kommen. Warum?

Die meisten oder besser alle, die nicht in Erscheinung getreten sind, hatten Verletzungen und wollten nichts riskieren. Ich hatte eben Schmerzen im Ellenbogen. Das gehört zum Leistungssportler-Dasein dazu. Natürlich musste man in diesem Jahr nicht auf Biegen und Brechen versuchen, Verletzungen mit allen möglichen Mitteln auszureizen, sondern eher mit Ruhe und Geduld auszukurieren. Gerade für mich war es aber wichtig, Wettkämpfe zu absolvieren, weil ich das in den vergangenen anderthalb Jahren nicht richtig machen konnte. Natürlich spielte auch der finanzielle Aspekt mit rein, keine Frage. Doch ich wollte vor allem Routine sammeln und Sicherheit gewinnen. Das sind Erfahrungswerte im Leistungssport. Die bekommt man nur, wenn man die Sache auch durchzieht. Nur das bringt dich weiter – das war meine sportliche Motivation.

Es gibt noch eine andere?

Die Gesellschaftliche. Ich wollte den Leuten zeigen, dass es trotz der besonderen Situation, in der wir derzeit leben, möglich ist, das Beste daraus zu machen und Spitzenleistungen zu erbringen – egal, ob das im Sport oder in anderen Bereichen ist. Wenn ich andere Leute oder den Nachwuchs damit motivieren konnte, habe ich dieses Jahr viel geschafft – nicht nur für mich, sondern für die Leichtathletik und den Sport insgesamt.

Können Sie es nachvollziehen, dass andere Spitzenathleten wie Speer-Olympiasieger Thomas Röhler einen anderen, regenerativen Weg gewählt haben?

Letztlich führen viele Wege nach Tokio. Da hat jeder Athlet seine eigene Art und Weise. Das ist sehr individuell. Aufgrund meiner Fähigkeiten bin ich einer, der relativ schnell zu seiner Bestform kommt. Das hat man auch bei der WM 2019 in Doha gesehen. Da hatte ich kein Fundament und habe trotzdem Bronze geholt. Ich mache keinem Athleten einen Vorwurf, dass er diese Saison aussetzt und etwa Verletzungen regeneriert. Das steht mir nicht zu.

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Von den zehn weitesten Speerwürfen in diesem Jahr sind sieben von Ihnen. War es für Sie auch psychologisch wichtig, Ihren Rivalen zu zeigen: An diesem Vetter müsst ihr jetzt erst mal vorbei?

Das kann Fluch und Segen zugleich sein. Definitiv schaut im Speerwerfen nächstes Jahr erst einmal alles auf mich, weil ich in dieser Saison fast Weltrekord geworfen habe. Das ist mir bewusst. Aber darüber mache ich mir keinen Kopf. Ich bin viel zu sehr auf mich und meine Leistung fokussiert, anstatt auf andere zu schauen. Das interessiert mich echt nicht.

Sind Sie denn generell jemand, der mit Druck gut umgehen kann?

Ich kann für mich aus dieser Saison nur positive Aspekte herausziehen. Das gibt mir viel Energie und Selbstbewusstsein, klar. Wie das dann im nächsten Jahr ausschaut, wird man sehen. Ich versuche, mich in dem gleichen mentalen Schema zu bewegen, wie wir das in diesem Jahr gemacht haben – egal, wer da 2021 wieder mitmischt. Es wird sicher auch Wettkämpfe geben, bei denen ich mal nur Zweiter oder Dritter werde. Da werde ich wohl keine Serie von neun Siegen hintereinander hinlegen können. Die anderen haben auch ein gutes Niveau. Das muss man aber realistisch für sich einschätzen. Das war auch ein Lernprozess, der mich dieses Jahr sehr vorangebracht hat.

Sie haben mit dem zweitweitesten Wurf der Geschichte den deutschen Rekord auf 97,76 Meter verbessert. Nur 72 Zentimeter fehlen noch zum Weltrekord des Tschechen Jan Zelezny. Ist Ihnen diese Bestmarke wichtig?

Mein Ziel im nächsten Jahr ist es nicht, Weltrekord zu werfen, sondern Olympia-Gold in Tokio zu holen. Das hat Priorität. Den Weltrekord würde ich natürlich gern mitnehmen, klar. Doch das kann man schwer planen. Da muss so viel passen. Man muss auch Glück haben und vor allem verletzungsfrei bleiben. Das ist gerade im Speerwerfen ein schmaler Grat.

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Können Sie erklären, welche Umstände bei Ihrem Fabelwurf gepasst haben?

Die Anlaufgeschwindigkeit war sehr dynamisch. Da kam mir aber auch der Mondo-Belag in Chorzow (Königshütte/Anm. d. R.) zugute, der auch in Tokio liegt. Der Belag ist härter. Da muss ich mir um mein Stemmbein keine Gedanken machen. Bei meinem Rekordwurf hatte ich zudem ein langes Stemmbein-Momentum. Das heißt, ich konnte die Kraft aus dem Anlauf in meinen Wurf reinbringen, wenn meine Brust, meine Schulter und meine Hüfte gegen das linke Stemmbein arbeiten. Damit hat sich viel mehr Power aufgebaut, und ich habe den Speer sehr gut getroffen, sagt man. Das war sehr nahe am perfekten Wurf, obwohl es den vielleicht nicht gibt. Man findet überall Sachen. In Chorzow war es beispielsweise windstill. Bei ein bisschen Rückenwind … Ich müsste da mal einen Bio-Mechaniker fragen, aber ich glaube, beim Speerwerfen gibt es über 1.000 Einzelbewegungen, die zusammenpassen müssen. Das ist wie bei einer Kettenreaktion.

Sie haben von Olympia-Gold gesprochen. Glauben Sie, dass die Sommerspiele 2021 in Tokio stattfinden?

Das IOC hat ein Statement dazu abgegeben, dass es die Olympischen Spiele auf jeden Fall machen will. Ich fordere das auch als Sportler. Die Leute vom IOC werden kein schlechtes Gehalt beziehen und sollen sich für uns Sportler und die Spiele einsetzen – im Sinn des Sports, der weltweiten Gesellschaft. Wir haben in diesem Jahr in der Leichtathletik und anderen Sportarten gesehen, wie sportliche Events unter Corona aussehen können. Jetzt hat das IOC viel Zeit, Konzepte zu entwickeln. Ich wäre sehr enttäuscht, wenn die Olympischen Spiele nicht stattfinden können und würde mich schon sehr wundern, wenn man das nicht auf die Beine stellen kann. Wie das abläuft, ob ohne Zuschauer, nur mit japanischen Besuchern oder einer begrenzten Anzahl an internationalen Gästen, muss das IOC entsprechend planen. Dafür ist genügend Zeit. Die müssen sich jetzt den Hintern aufreißen.