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Wie Daten von Unfällen Leben retten

Die Verkehrsunfallforscher der TU Dresden sind Teil eines weltweit einzigartigen Projekts.

Von Jana Mundus
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Es ist ein Klein-Deutschland, in dem die Mitarbeiter der Verkehrsunfallforschung unterwegs sind. Das 3.500 Quadratkilometer große Gebiet um Dresden herum bildet das Unfallgeschehen in der Bundesrepublik ab.
Es ist ein Klein-Deutschland, in dem die Mitarbeiter der Verkehrsunfallforschung unterwegs sind. Das 3.500 Quadratkilometer große Gebiet um Dresden herum bildet das Unfallgeschehen in der Bundesrepublik ab. © ADAC/Ronald Bonss

Mehr als 93.000 Unfälle ereigneten sich im Jahr 2020 auf Sachsens Straßen. Schwer verletzt wurden dabei rund 3.100 Menschen, leichtere Blessuren zogen sich 8.800 Personen zu. Insgesamt 141 Menschen starben. „Auch wenn die Zahl der Unfallopfer in den vergangenen Jahren immer weiter sank – jeder Mensch, der bei einem Verkehrsunfall stirbt, ist einer zu viel“, sagt Henrik Liers.

Seit fast fünf Jahren ist er Geschäftsführer der Verkehrsunfallforschung an der TU Dresden GmbH (Vufo). Mit seinem Team ergründet er, was zu diesen Unfällen führt und welche Verletzungen Menschen dabei erleiden. Es geht um wichtige Informationen für die Autoindustrie und den Gesetzgeber. Wie können Fahrzeuge so gebaut werden, dass das Fahren in ihnen möglichst sicher ist? Welche gesetzlichen Regelungen braucht es, um Verkehrsteilnehmer zu schützen?

Bereits seit 1999 läuft das große Forschungsprojekt Gidas. Initiiert von der Bundesanstalt für Straßenwesen und dem Verein Forschungsvereinigung Automobiltechnik untersucht die Verkehrsunfallforschung an der TU Dresden dabei derzeit als einzige beauftragte Einrichtung Verkehrsunfälle mit Personenschaden. Sie werden umfangreich dokumentiert und ausgewertet. Insgesamt 1.000 Unfälle nehmen die Wissenschaftler dafür im Großraum Dresden pro Jahr auf.

Mit Blaulicht dürfen die Forscher zur Unfallstelle fahren. Der Zeitfaktor ist wichtig, damit vor Ort noch möglichst alles so ist, wie zum Unfallzeitpunkt. Nur das ermöglicht die genaue Rekonstruktion am Computer.
Mit Blaulicht dürfen die Forscher zur Unfallstelle fahren. Der Zeitfaktor ist wichtig, damit vor Ort noch möglichst alles so ist, wie zum Unfallzeitpunkt. Nur das ermöglicht die genaue Rekonstruktion am Computer. © VUFO TU Dresden

„Unser Untersuchungsgebiet umfasst 3.500 Quadratkilometer“, erklärt Henrik Liers. Es ist so zugeschnitten, dass es die existierende Verkehrsinfrastruktur und Topografie von Deutschland möglichst gut abbildet. „Wir müssen repräsentativ sein, um das Unfallgeschehen in Deutschland darstellen zu können“, beschreibt er es.

„Es ist quasi ein Klein-Deutschland.“ Im Norden reicht die Zone bis nach Ortrand, wo Fahrzeuge auf langen Alleen fahren. Im Süden befinden sich in der Sächsischen Schweiz und dem Osterzgebirge bergige Straßenverhältnisse, die Autofahrern vor allem auch im Winter Probleme bereiten können. Dazwischen existiert ein abwechslungsreicher Mix aus kleinen Gemeindestraßen, innerstädtischem Verkehr, asphaltierten Landstraßen oder Autobahnen.

Mit Blaulicht zum Einsatzort

In zwei Schichten arbeitet das Team der Verkehrsunfallforschung. Die Mitarbeiter sind am Tag und auch nachts mit zwei Fahrzeugen unterwegs. Ein verunglückter Motorradfahrer auf der Landstraße oder ein Zusammenstoß zweier Autos im Stadtzentrum: Wohin die Experten fahren, entscheiden sie nicht selbst. Damit die Daten für die Forschung Relevanz haben, muss es eine Zufallsstichprobe bleiben. „Während der Schichtzeiten fahren wir deshalb immer den aktuellsten Unfall mit Personenschaden im Erhebungsgebiet an“, erläutert der Vufo-Geschäftsführer die Auswahl.

Egal ob der Anfahrtsweg dorthin kurz oder lang ist. Um auf jeden Fall möglichst schnell anzukommen, dürfen die Einsatzteams mit Blaulicht fahren. Sie müssen zeitig genug vor Ort sein, um möglichst die Situation vorzufinden, in der der Unfall wirklich passiert ist.

Wenn noch klar zu erkennen ist, wo sich die Fahrzeuge zum Unfallzeitpunkt befunden haben, Spuren noch nicht verändert wurden. „Wenn wir mit als Erste eintreffen, unterstützen wir natürlich auch beim Absichern des Unfallorts.“ Jeder im Team habe zudem eine erweiterte Ausbildung in Erster Hilfe, um verletzten Personen helfen zu können, falls der Rettungswagen noch nicht da ist. Das habe immer Priorität bevor mit der Datenerhebung begonnen wird.

Fast 3.500 Daten sammeln die Forscher pro Unfall. Dafür werden am Unfallort auch eine Reihe von Messungen durchgeführt.
Fast 3.500 Daten sammeln die Forscher pro Unfall. Dafür werden am Unfallort auch eine Reihe von Messungen durchgeführt. © VUFO TU Dresden

Rund 3.500 Daten sind es, die so für einen Unfall zusammenkommen. Die Wissenschaftler erfassen Informationen zu Gegebenheiten der Unfallstelle, der Unfallentstehung, zu Ausstattungen, Deformationen und Beschädigungen der Fahrzeuge sowie zu Art, Schwere und Ursache von Personenschäden.

Die Unfallstelle wird exakt vermessen und auch Zeugen und Beteiligte werden befragt. „Was wir dabei immer deutlich sagen: Wir machen keine Polizeiarbeit, geben auch keine Informationen an die Kfz- oder Unfallversicherungen heraus“, sagt Liers. Es ginge ausschließlich um die Gründe, wie es zum Unfall gekommen ist, und die Effekte, die all das gehabt hat. Rund anderthalb Stunden dauert so eine Aufnahme vor Ort.

Wichtige Informationen für Automobilindustrie

Auch danach tragen die Unfallforscher weitere Informationen zu Umweltbedingungen oder mithilfe der Krankenhäuser und behandelnden Ärzte zum Zustand der Verletzten zusammen. Aus all dem entsteht später am Computer eine genaue Simulation des Unfalls. Es ist ein wertvoller Datenschatz „Was wir hier tun, ist hinsichtlich Fallanzahl und Datentiefe einzigartig in der Welt“, macht Liers deutlich. Und es hilft, die Mobilität von morgen zu entwickeln und auf den Weg zu bringen.

Die Automöbelhersteller orientierten sich an den Daten, als sie vor zehn Jahren neue Konzepte für Airbags in der Mittelkonsole der Autos ersannen. Beim Thema Notbremsassistent helfen die Ergebnisse zu verstehen, wo Sensoren am Fahrzeug sitzen müssen, um Fahrradfahrer gut erkennen zu können. „Unfälle wird es natürlich auch weiterhin geben“, sagt der Vufo-Chef. „Aber die Chance, dass sich Menschen dabei schwer verletzen oder gar sterben, sinkt durch die Ergebnisse der Verkehrsunfallforschung glücklicherweise.“

Als Dienstleister unterstützen die Dresdner auch andere Projekte. Für die ADAC-Stiftung geht es ihnen dabei beispielsweise um die Frage, wie Rettungskräfte besser informiert werden. Die Daten verraten, welche Verletzungen bei welchem Unfall passieren. „Wenn das Auto durch seine Sensorik zum Beispiel weiß, dass es einen Frontalaufprall bei einer Geschwindigkeit von 60 km/h gab und ein angeschnallter Fahrer im Innenraum saß, kann mithilfe von statistischen Modellen die Schwere der Verletzungen vorhergesagt werden.“ Werden diese Informationen an die Rettungsleitstelle übermittelt, kann diese besser einschätzen, welche Einsatzkräfte vor Ort gebraucht werden. Theoretisch könnte später sogar bereits das Krankenhaus informiert werden, wenn mit komplizierten Verletzungen zu rechnen ist. Die Daten der Dresdner Forscher helfen dann, wieder einmal Leben zu retten.