"Wir verlieren in Sachsen zu viele kluge Köpfe"

Willkommen im Hörsaal. Nein, nicht zur Vorlesung, zum Interview. Der langjährige Dresdner TU-Rektor Prof. Hans Müller-Steinhagen und Stephan Schön, Ressortleiter Wissen bei der SZ, haben schon viele Male zusammengesessen. In guten wie in schwierigen Zeiten. Zum Gespräch, zum Streit, auch zum feiern. Seit Okober 2020 ist Prof. Hans Müller-Steinhagen einer der Vorstände der Tudag, der TU Dresden AG, dem kommerziellen Arm der Technischen Universität. Zu der gehört auch die DIU, die Dresden International University, deren Präsident er ist. Hier im Hörsaal nutzt der Wissenschaftler und Manager nun seine Chance, diesmal die Fragen dem Journalisten zu stellen.
Herr Schön, Sie haben sich schon während Ihres Studiums für den Schwerpunkt Wissenschaftsjournalismus entschieden. Was war ausschlaggebend?
Wissenschaft ist immer neu. Man kann 20, 30 Jahre arbeiten und entdeckt immer wieder neue Themen. Es ist ja auch eine Menge passiert von Genetik bis Geologie. Ausschlaggebend für Dresden war, dass es spannend war, hier vor Ort zu sein und trotzdem in der großen Welt herumzukommen; hier zu arbeiten und trotzdem Dinge anpacken zu können, die Wissenschaft international machen. Genau dieser Spagat hat mich gereizt, in der Region verortet zu sein und trotzdem weit über den Tellerrand hinauszuschauen. Alternativ hätte ich Physik studiert.
Es gibt kaum eine Woche, in der nicht ein Artikel aus Ihrer Feder abgedruckt wird. Was ist im Rückblick Ihr wichtigster Bericht?
Unbestrittenes Highlight für mich sind die Berichte zur Polarexpedition 2017, an der ich als mitarbeitender Journalist beziehungsweise als Wissenschaftler teilnehmen durfte, also auch mal die Perspektive wechseln konnte. Auf dem Forschungsschiff Polarstern mitzuarbeiten, Hilfsarbeiten für die Wissenschaft zu erledigen und Berichte aus dem Polareis zu schicken, das ist das formal Spannende. Genauso spannend war aber der Bogen von der großen Welt hierher nach Sachsen: Was da oben am Nordpol passiert, bestimmt unser Wetter hier. Es geht um Moleküle, um Bakterienbruchstücke, um Salze, die in die Atmosphäre kommen und letztlich Wolken bilden – also ganz kleine Teile, die auf das globale Geschehen Einfluss haben.
Gibt es auch Veröffentlichungen, die Sie im Nachhinein nicht mehr so schreiben würden?
Es gibt keinen so markanten Text, für den ich mich schämen müsste, ihn geschrieben zu haben. Es gibt aber viele Dinge, die ich heute anders schreiben würde. Ein Beispiel aus der nahen Vergangenheit: Ich würde heute einen Beitrag über Mund-Nasen-Masken ein Stück anders schreiben als zu Beginn der Pandemie. Vor einem Jahr war ich sehr skeptisch, inwieweit selbst genähte Masken überhaupt helfen. Die Virologie wusste damals noch sehr wenig von Aerosolen und wie die sich ausbreiten. Damals glaubte ich nicht, dass Masken effizient sind. Dieses Stück würde ich heute niemals mehr so drucken wie vor einem Jahr.
Aktuell hört man immer wieder, dass das Vertrauen in die Wissenschaft, aber auch in die Berichterstattung darüber sinkt. Wie gehen Sie selbst mit dieser Entwicklung um?
Das macht mir schon Sorge, wenn ich sehe, dass sich kleinere bis erhebliche Bevölkerungsgruppen von Fakten generell lossagen. Es gibt eine Gruppe, die man aus meiner Sicht nicht mehr zu den etablierten Medien zurückholen kann. Fakt ist, dass wir nur mit gut recherchierten, inhaltlich fehlerfreien Texten überzeugen können. Und da ist die Wissenschaftsberichterstattung aus meiner Sicht in der Zeitung eine Säule, weil sie neue Dinge versucht zu übersetzen und zu erklären. Auf Nutzen und Risiken hinzuweisen.
In meiner neuen Rolle als Vorstand der TU Dresden Aktiengesellschaft Tudag gilt mein besonderes Augenmerk dem Thema Wissenstransfer. Wie geht die Sächsische Zeitung mit diesem ressortübergreifenden Thema um? Liegt es eher im Wissenschafts- oder im Wirtschaftsressort?
Es liegt in beiden und in keinem und lebt von guter Absprache. Ein Beispiel, dass es uns in der Sächsischen Zeitung gut gelingt, Wissenstransfer sichtbar zu machen, ist die Serie „Genial sächsisch“. Hier zeigen Wissenschafts- und Wirtschaftsredaktion gemeinsam, welche Wissenschaft hinter den Dingen und Produkten steht, die eigentlich ganz einfach aussehen.
Seit gut einem Jahr beschäftigt uns Corona. Hat sich durch Corona Ihre Arbeitsweise, aber auch der Journalismus insgesamt verändert?
Das Arbeiten hat sich verändert. Man trifft jetzt niemanden mehr. Man kann nicht mehr so einfach für Recherchen vor Ort sein, nicht mehr in Institute reingehen oder in die Feldforschung. Eigentlich lebt Journalismus ja davon, vor Ort zu sehen, was passiert. Die Inhalte selbst haben sich nicht grundlegend verändert, aber die Art der Informationsgewinnung. Und auch interne Abläufe haben sich komplett geändert, es gibt nur noch virtuelle Meetings. Als Vorteil für mich als Wissenschaftsredakteur sehe ich aber, dass ich an Konferenzen, Tagungen, Hintergrundgesprächen digital teilnehmen kann, zu denen ich sonst nie hätte hinfahren können. Damit ist auch die thematische Vielfalt deutlich größer geworden. Das, hoffe ich, wird auch in Zukunft so bleiben. Damit hat man auch die Chance, über die Grenzen Sachsens hinauszuschauen.
Dresden und die Welt
Sie gelten als gut vernetzt mit der sächsischen Wissenschaftscommunity. Wie schätzen Sie die sächsische Wissenschaftslandschaft im nationalen, aber auch im internationalen Vergleich ein?
Die sächsische Wissenschaft fühlt sich stärker, als sie ist. Wissenschaft in Dresden glänzt in Dresden, leuchtet in Deutschland und glimmt vielleicht noch international. Da ist aber mehr drin. Es gibt einzelne Spitzenbereiche, die deutlich stärker international wirken könnten, wenn es denn nicht so viele unüberwindbare Hürden zwischen Top-Wissenschaftlern in Dresden, Leipzig, Chemnitz und Freiberg oder zwischen universitärer und außeruniversitärer Forschung gäbe. Da müssen wir größer denken, größere Bausteine hinlegen – wie zum Beispiel im Verbund von Dresden-Concept. Wir haben gute Chancen, international weit vorn mitzuspielen bei Genetik und Zellbiologie, Materialwissenschaften und Ingenieurwissenschaften. Daraus könnte auch mal ein Nobelpreisträger hervorgehen. Das heißt nicht, dass das, was hier nicht genannt wurde, schlecht ist.
Und wo sehen Sie das größte Potenzial, aber auch Defizite des sächsischen beziehungsweise Dresdner Wissenschaftsstandortes?
Zum einen verlieren wir zu viele kluge Köpfe, weil wir ihnen keine langfristig planbaren Perspektiven bieten. Zudem fehlen sowohl Start-ups als auch Industrie- und hochinnovative Konzernforschung. Das alles führt dazu, dass Menschen viel zu oft weggehen. Wenn es Sachsen gelingt, durch Transfer neue Industrien und neue Branchen aufzubauen – so wie es gerade in der Lausitz passiert und im Leipziger Land, dann haben wir die Chance, auch die Wissenschaft weiter zu pushen. Dazu müssen auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen so geändert werden, dass junge Wissenschaftler unbefristet eingestellt werden können. Das schließt ja nicht aus, dass es auch betriebsbedingte Kündigungen geben kann, wenn es kein Geld mehr für die jeweiligen Aufgaben gibt. Hochschulen, Universitäten und Institute müssten wie große Wirtschaftsunternehmen agieren können. So wie es international auch üblich ist. Das ist aber kein rein sächsisches Problem. Das müsste bundesweit geschehen.
Wenn Sie der Politik oder auch der Wissenschaft Ratschläge geben könnten, was würden Sie raten?
Firmengründungen stärken, Wissenstransfer ausbauen, neue Dinge aufbauen – das wird gebraucht. Gute Beispiele dafür sind Start-up-Services der Wissenschaft wie Dresden Exists. Und es gibt Strukturen wie die Tudag, die Start-ups, Unternehmen und Weiterbildung ermöglichen. Davon braucht es aus meiner Sicht mehr. Das alles ist natürlich sinnlos, wenn es nicht gelingt, die Digitalisierung entscheidend voranzutreiben. Hier sollte Sachsen mehr tun.
Die nächste Expedition
Welches Thema wollen Sie unbedingt noch umsetzen, welchen Bericht schreiben, an welcher Expedition teilnehmen?
Ein großer Traum ist noch, an einer Expedition auf einen aktiven Vulkan mit Geowissenschaftlern teilzunehmen, dort miterleben zu dürfen, was im Erdinneren passiert. Das wäre tatsächlich ein heißes Thema!
Ganz zum Schluss: Haben Sie eigentlich ein wissenschaftliches Idol?
Es gibt keine einzelne Person, die ich für mich als Leitbild sehe. Aber es gibt einzelne Wissenschaftler, die ich achte, weil sie als Forscher, Führungsperson und Mensch herausragend sind.
Interview: Prof. Hans Müller-Steinhagen