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Dresdens Däumelinchen und seine Helikoptereltern

Am Theater Junge Generation befreit sich ein Mädchen aus dem Korsett der Angst. Weihnachtliches Theater für Kinder ab vier.

Von Johanna Lemke
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Auf der Schwalbe Richtung Freiheit: Däumelinchen, gespielt von Ulrike Sperberg am Theater Junge Generation in Dresden.
Auf der Schwalbe Richtung Freiheit: Däumelinchen, gespielt von Ulrike Sperberg am Theater Junge Generation in Dresden. © Marco Prill

Was für ein Sternenhimmel! Weit erstreckt er sich über das kleine Kind, schwarz und riesengroß. Es will nach den Sternen greifen, mindestens aber den Garten entdecken, schwimmen lernen und Abenteuer erleben. Doch Däumelinchens Eltern finden die Idee eher so mittel. Sie setzen ihrem Kind einen Helm auf, legen ihm einen leuchtenden Regenmantel um und ziehen ihm Schwimmflügel an. Zu guter Letzt bekommt es einen Schwimmring übergestülpt und muss drinnen bleiben. Sicher ist sicher.

Das Theater Junge Generation in Dresden knöpft sich in seiner Weihnachtsveranstaltung für kleinere Kinder die Helikoptereltern vor. „Däumelinchen“ nach dem Märchen von Hans Christian Andersen ist eine Inszenierung für Kinder ab vier. Es ist das Alter von „Nicht so schnell!“, „Dafür bist du noch zu klein!“ oder „Ohne Mütze geht’s nicht raus.“ Der Radius, in dem sich Kinder frei bewegen dürfen, hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verringert. Aus Angst vor Gefahren in der faktisch sichersten Welt, die wir je hatten, lassen Eltern ihre Kinder heute kaum noch Dinge selbst erfahren. Wohnungen gleichen Reinräumen ohne Streichhölzer, scharfe Messer oder spitze Kanten. Elterntaxis kutschieren bis vor die Kita, und wer Rad fährt, gleicht einer Warnblinkanlage. 

Däumelinchen kann ein Lied davon singen. Sie ist ziemlich klein geboren, daher auch ihr Name, darum verhätscheln ihre Eltern sie besonders. So geht Däumelinchen, gespielt von Ulrike Sperberg, ernüchtert mit Helm und Rettungsring schlafen.

Auf der kleinen Bühne des TJG entfaltet sich die große Welt um ein Kind, das in eine Nussschale passt, nicht durch aufwendige Bühnenmagie, sondern durch wundervolle Puppenspielarbeit. Daniil Shchapow, Ulrike Schuster und Patrick Borck führen Figuren, die mal als flache Papiereltern daherkommen, mal als kunstvoll gestaltete, handgeführte Frösche, dann wieder im menschengroßen Nagerkostüm oder als flirrender Handpuppenkäfer. Däumelinchen flieht aus ihrem Kinderzimmer und landet im Garten, wo sie Bekanntschaft mit Frosch, Maikäfer und Maus macht. Zuerst findet sie dieses Abenteuer wundervoll. Doch dann muss sie feststellen, dass die neuen Freunde auch alle nur etwas von ihr wollen: Allesamt wollen sie Däumelinchen heiraten. Wieder wird sie nicht gefragt.

Zum Heulen schön

Regisseur Christoph Levermann und Dramaturg Christoph Macha haben aus dem dänischen Kunstmärchen eine wundervoll alltagsnahe Geschichte gestrickt. So ist der Froschjunge, mit dem das Kind verheiratet werden soll, ein leidenschaftlicher Balletttänzer, der mit glitzernder Badehose zum Schwanensee-Motiv hereingeschwebt kommt. Frei nach Billy Elliot sagt er: „Ich will einfach nur tanzen!“ Die Käfer sind hedonistische Glühwürmchen, und der Maulwurf vermietet der Maus den Bau zum Wucherpreis. Die Sprache ist kurzweilig, der Witz altersgerecht.

Ulrike Sperberg vermittelt das Kribbeln, die kindliche Entdeckerlust, die pure Neugier aufs Leben. Und die Enttäuschung, wenn immer nur andere über sie bestimmen. Ihr Däumelinchen paddelt auf der Seerose durch den Tümpel, groovt bei der Käferparty mit, greift zum Akkuschrauber, als sie den Flügel der verletzten Schwalbe reparieren muss. Auf deren Rücken fliegt sie am Ende in einer zum Heulen schönen Szene in Richtung Freiheit. Der Ventilator pustet, die Musik macht Gänsehaut und die Kinder im Publikum lassen ihren Gefühlen freien Lauf. Was für ein Moment!

Vielleicht wird nach dieser Vorstellung ein Vater einmal weniger sagen: „Nicht so schnell!“ Oder eine Mutter verkneift sich ein „Dafür bist du noch zu klein“. Das wäre dann schon mal was.

„Däumelinchen“ läuft bis Weihnachten fast täglich, manchmal mehrmals am Tag, im Theater Junge Generation in Dresden. Karten: 0351/32042777