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Dresdner Kanuten paddeln auf dem Daten-Highway zu Olympia

Die Weltklasse-Athleten Tom Liebscher und Steffi Kriegerstein setzen bei der wichtigen Leistungsdiagnostik auf ihre Heimatstadt.

Von Alexander Hiller
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Tom Liebscher hat sein privates Kanu-Ergometer zur Verfügung gestellt. So trainiert der Rio-Olympiasieger auch zu Hause - dann ohne Sauerstoffmaske.
Tom Liebscher hat sein privates Kanu-Ergometer zur Verfügung gestellt. So trainiert der Rio-Olympiasieger auch zu Hause - dann ohne Sauerstoffmaske. © Matthias Rietschel

Aus dem rechten Ohr des Olympiasiegers tropft Blut auf das hauptsächlich weiße Trikot mit den deutschen Nationalfarben. Der Fluch von Tom Liebscher ist kaum zu verstehen. Irgendwas mit „geht doch nicht raus“. Den Rest verschluckt die Sauerstoffmaske, an der der Weltklasse-Kanute hängt, während er auf einem Paddelergometer sitzt und bei der Trockenübung schwitzt wie normale Menschen bei 40 Grad in der Sonne.

„Kein Problem“, sagt Philipp Flößel und klopft dem Blutenden auf die breiten Schultern, „das wäscht sich mit kaltem Wasser gut wieder raus.“ Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im sportmedizinischen Bereich des Universitätscentrums für Orthopädie & Unfallchirurgie (OUC) in Dresden und kennt sich in dieser Funktion mit Blutflecken aus. Aus den Ohrläppchen werden den Sportlern regelmäßig Proben entnommen, um die Laktatwerte zu messen, die die jeweilige Belastungsverträglichkeit widerspiegeln. 

Auf dem Ergometer lassen sich mehrere Geschwindigkeiten genau ansteuern. Bis zu 17 Kilometer pro Stunde erreicht Liebscher dabei als Spitzengeschwindigkeit – so schnell wie ein begabter Mittelstreckenläufer.

Auf Potsdamer Ausfall reagiert - dort wird renoviert

Dass sich nun auch die besten Dresdner Kanuten auf diese Art und Weise in ihrer Heimatstadt betreuen lassen, ist in dieser Qualität neu. „Wir betreten mit dem erstmals in Deutschland durchgeführten Spiroergometrie-Stufentest bei Kanurennsportlern Neuland in der Diagnostik“, sagt Prof. Dr. med. Klaus-Dieter Schaser, der Ärztliche Direktor des OUC. Es ist ein Pilotprojekt, das aus der Not heraus geboren wurde und auf kreativen Ideen beruht. „Eigentlich sind wir zur Leistungsdiagnostik zwischen den Jahren Stammgäste auf der Kanu-Gegenstromanlage in Potsdam“, sagt die Olympiazweite Steffi Kriegerstein vom KC Dresden. Die Anlage in Potsdam wird allerdings gerade renoviert.

Das Uniklinikum Dresden verfügte zwar über räumliche und zeitliche Möglichkeiten, nicht aber über ein dafür nötiges Kanuergometer. Das brachte Kriegersteins Klubkollege Tom Liebscher kurzerhand von zu Hause mit. „Die Anschaffung eines solchen Geräts ergibt für uns nicht wirklich Sinn, weil wir über die Spitzenathleten hinaus damit keine weiteren Tests mit interessierten Hobbysportlern durchführen könnten. Dafür ist Kanu einfach zu speziell“, erklärt Philipp Flößel. Auch Sportmedizin muss sich letztendlich finanziell rechnen.


Pumpen, pumpen, pumpen: Steffi Kriegerstein stemmt nur ungern Gewichte.
Pumpen, pumpen, pumpen: Steffi Kriegerstein stemmt nur ungern Gewichte. © Matthias Rietschel

Dafür ergibt die wissenschaftliche Auswertung über das derzeitige Leistungsvermögen von Liebscher, Kriegerstein und Co. umso mehr Sinn. Denn die Leistungsdiagnostik liegt genau zwischen zwei Trainingslagern. Von Ende November bis kurz vor Weihnachten hatten sich die Elitepaddler des Deutschen Kanu-Verbandes (DVV) für knapp vier Wochen nach Florida zurückgezogen, seit Mittwoch sind die Wassersportler zum Skitrainingslager in St. Moritz. „Da lohnt es sich, zwischendurch zu schauen, wie der Leistungszustand ist“, sagt Steffi Kriegerstein. Liebscher hat mit seinen männlichen Teamkollegen in Florida knapp 700 Trainingskilometer auf dem Wasser zurückgelegt. Die vier Einheiten pro Tag summieren sich in den vier Wochen auf vier bis fünf Tage Training ohne Pause.

Die jetzt erfassten Daten der Athleten dienen nun der Trainingsoptimierung beziehungsweise der punktgenauen Ansteuerung. Im Idealfall lassen sich dadurch ganz spezielle Trainingspläne für jeden Sportler entwickeln, man könnte auf Mängel sehr genau reagieren. „Man hat bei mir herausgefunden, dass ich das Krafttraining anders bzw. falsch mache“, sagt Steffi Kriegerstein. „Ich mache zu viel Kraftausdauer, gehe zu wenig in die submaximalen Gewichte rein. Ich weiß auch nicht, wieso ich das in den letzten Jahren versäumt habe. Das liegt vielleicht daran, dass ich nicht megagern im Kraftraum bin“, erklärt sie.

Ein Trainingslager reiht sich ans nächste

Aber die 26-Jährige weiß, dass bereits in diesem Jahr die Quotenplätze für Olympia 2020 verteilt werden. Deshalb wird nichts dem Zufall überlassen. „Wir wollen den Spiroergometrie-Stufentest zweimal pro Jahr machen“, wünscht sich Landestrainer Jens Kühn, der mit Jacob Kurschat und Benedikt Bachmann auch zwei Nachwuchs-Weltmeister – und mithin vielleicht künftige Olympioniken – in seiner starken Trainingsgruppe hat. „Tokio werden wahrscheinlich meine letzten Spiele“, sagt Kriegerstein und unterstreicht die Bedeutung der wissenschaftlichen Vorbereitung.

Kriegerstein und Liebscher sind Mitte Januar mal wieder für drei Wochen in ihrer Heimatstadt, dann geht es „erneut für dreieinhalb Wochen nach Florida, dann für zwei Wochen nach Sevilla“, erklärt Tom Liebscher die nächsten Trainingslager, „und dann steht die Saison auch schon vor der Tür“, weiß der 25-Jährige. Er kann sich dabei jedoch nun auf genaue Zahlen und Daten stützen, die in seiner Heimatstadt gefiltert wurden.

Tom Liebscher und Steffi Kriegerstein - sie sind Dresdens Vorzeige-Kanuten. 
Tom Liebscher und Steffi Kriegerstein - sie sind Dresdens Vorzeige-Kanuten.  © Jürgen Lösel