Merken

Eigendorfs Tod auch nach 30 Jahren ein Rätsel

1979 flüchtete Lutz Eigendorf vom BFC Dynamo in den Westen und blamierte Stasi-Minister Erich Mielke bis auf die Knochen. Nur vier Jahre später starb der Profi unter mysteriösen Umständen, die Stasi war beteiligt.

Teilen
Folgen

Von Frank Thomas

Berlin. Ganz genau wird wohl niemand mehr aufklären können, was in jener Nacht auf regennasser Straße zwischen den Braunschweiger Ortsteilen Querum und Bienrode geschah. Gegen 23.00 Uhr setzte Fußball-Profi Lutz Eigendorf mit 2,3 Promille Alkohol im Blut in einer Kurve seinen Alfa Romeo an einen Baum. Am 7. März 1983 starb der sechsmalige DDR-Nationalspieler an schweren Kopf- und Brust-Verletzungen im Krankenhaus.

Auf einem Schrottplatz steht das Wrack des Autos, in dem Eigendorf am 5. März 1983 tödlich verunglückte.
Auf einem Schrottplatz steht das Wrack des Autos, in dem Eigendorf am 5. März 1983 tödlich verunglückte.
Lutz Eigendorf als Fußballer des BFC Dynamo. In der DDR galt er nach seiner Flucht als „Vaterlandsverräter“.
Lutz Eigendorf als Fußballer des BFC Dynamo. In der DDR galt er nach seiner Flucht als „Vaterlandsverräter“.

Genau 30 Jahre später gilt der mysteriöse Tod noch immer als einer der spektakulären Fälle, die nie gänzlich geklärt werden konnten. Tatsache aber ist, dass das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) massiv seine Finger im Spiel hatte.

In Gießen abgesetzt

Eigendorf hatte im März 1979 ein Freundschaftsspiel des Stasi-Clubs BFC Dynamo in Kaiserslautern zur Flucht genutzt und sich bei einem Stadtbummel in Gießen vom Team abgesetzt. In der Stasi-Zentrale in Berlin löste die Nachricht Panik aus. Mehr als 50 hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter beschäftigten sich ab sofort mit der «Republikflucht des Vaterlandsverräters» Eigendorf.

Prominente DDR-Flüchtlinge

Durch den Leistungssport lernten sie die große, weite Welt kennen - zahlreiche DDR-Athleten trieb der Wunsch nach Freiheit schließlich zur Flucht in den Westen. Der BFC-Fußballer Lutz Eigendorf, der vor 30 Jahren auf mysteriöse Weise ums Leben kam, ist nur einer von etwa 600 Spitzensportlern, die es auf manchmal gefahrvollen Wegen in den Westen zog. Im Osten Deutschlands wurden sie einst als Idole verehrt, nach ihrer Flucht jedoch als Vaterlandsverräter beschimpft.

JÖRG BERGER: 1979 nutzt der Fußballtrainer eine Jugoslawien-Reise zur Flucht in den Westen. Dort muss er zunächst von Sozialhilfe leben, da der Deutsche Fußball-Bund seine DDR-Trainerlizenz nicht anerkennt. Später beißt er sich durch und betreut mit Erfolg die Bundesligisten Eintracht Frankfurt, 1. FC Köln und Schalke 04. Ein Jahr vor seinem Krebstod 2010 veröffentlicht Berger seine Autobiografie mit dem Titel «Meine zwei Halbzeiten. Ein Leben in Ost und West»

LUTZ EIGENDORF: Nach einem Fußball-Freundschaftsspiel des BFC Dynamo beim 1. FC Kaiserslautern setzt sich der DDR-Nationalspieler in den Westen ab. Am 21. März 1979 nutzt er einen Einkaufsbummel in Gießen zur Flucht. Der DDR-Fußballverband beantragt eine zweijährige Sperre für Eigendorf, doch die FIFA erteilt ihm nach Ablauf der einjährigen automatischen Sperre die Spielerlaubnis. Im Frühjahr 1983 kommt er bei einem Autounfall ums Leben. Danach gibt es zahlreiche Indizien, dass die Stasi in den Fall verwickelt ist.

FALKO GÖTZ: Im November 1983 nutzt der Fußballer ein Europapokalspiel des DDR-Meisters BFC Dynamo bei Partizan Belgrad zur Flucht. Über die Belgrader Botschaft der Bundesrepublik kommt der DDR-Juniorenauswahlspieler zu Bayer Leverkusen. Die Verbindung des späteren Trainers von Hertha BSC zu Coach Dettmar Cramer kommt über Jörg Berger zustande.

WOLFGANG SCHMIDT: Ein Stasi-Spitzel lockt den Olympia-Zweiten im Diskuswerfen von 1976 in Montreal mit einem fingierten Fluchtplan in die Falle. 1982 wird er zu einer anderthalbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Erst Ende 1987 darf er aus der DDR ausreisen - zu spät, um für die Olympischen Spiele 1988 in Seoul nominiert zu werden.

HANS-GEORG ASCHENBACH: Der Skisprung-Olympiasieger von 1976 und Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee gilt als eine der schillerndsten Figuren des DDR-Sports. 1988 gelingt ihm die Flucht in den Westen, seine Familie muss er zunächst in der Heimat zurücklassen. Erst wenige Monate vor dem Fall der Mauer erhalten seine Angehörigen durch Vermittlung der UNO die Erlaubnis, nach Freiburg überzusiedeln, wo Aschenbach als Arzt arbeitet.

RENATE VOGEL: 1979 flüchtet die dreimalige Schwimmweltmeisterin über Ungarn in den Westen. Ihr Mann wird in der DDR als potenzieller Fluchthelfer verhaftet. «Der Sport ist der einzige Weg, ins Ausland zu kommen. Das ist eine Motivation, die man in der Bundesrepublik gar nicht kennt», sagt sie nach ihrer Flucht in einem dpa-Interview.

WOLFGANG THÜNE: Mit Unterstützung durch Reck-Weltmeister Eberhard Gienger, heute CDU-Abgeordneter im Bundestag, flieht der prominente Turner am 2. Juni 1975 während der Europameisterschaft in Bern. In Leverkusen schließt er sich Bayer 04 an und wird 1977 deutscher Mehrkampf-Meister, gewinnt auch am Pauschenpferd und beim Sprung.

1 / 8

Für Stasi-Boss Erich Mielke, war die Flucht des prominenten Dynamo-Spielers, der in der DDR alle Vergünstigungen genoss, eine desaströse Schmach. Sie war mindestens genauso peinlich für Mielke wie sein späterer Auftritt vor der DDR-Volkskammer mit den zynischen Worten «Ich liebe Euch doch alle» in der Wendezeit.

Dass die Stasi am «Unfall» Eigendorfs maßgeblichen Anteil hatte, kam erstmals in der ARD-Dokumentation «Tod dem Verräter» 2.000 ans Tageslicht. Jahre später bestätigte ein Inoffizieller Stasi-Mitarbeiter (IM) vor dem Düsseldorfer Landgericht, er habe den Mordauftrag vom MfS angenommen, aber nicht ausgeführt.

In MfS-Unterlagen hatte es Hinweise auf eine Vergiftung Eigendorfs gegeben. Zudem geht aus den Akten hervor, dass der mit dem Fall Eigendorf beschäftigte Stasi-Offizier am Todestag Eigendorfs mit einer Sonderprämie von 1.000 DDR-Mark ausgezeichnet worden war.

Mielkes „Lieblings-Spielzeug“

Auch wiesen Indizien darauf hin, dass Eigendorf der Alkohol gewaltsam eingeflößt und der damals in Braunschweig spielende Profi bei seiner nächtlichen Fahrt durch ein entgegen kommendes Fahrzeug bewusst geblendet worden sei. Zeugen hatten ausgesagt, dass Eigendorf niemals so viel Bier getrunken habe, dass ein so hoher Promille-Wert möglich gewesen sei. Justiziable Beweise wurden aber nie gefunden. Als nachteilig erwies sich, dass eine kriminaltechnische Untersuchung des Wagens versäumt wurde und auch eine Obduktion Eigendorfs ausblieb. Erst nach der Wende hatte die Staatsanwaltschaft Berlin den Fall neu aufgerollt.

Die Machenschaften der Stasi und die Brisanz des Falles bei Mielkes «Lieblings-Spielzeug» BFC Dynamo verdeutlicht die Tatsache, dass 17 IM Eigendorfs Eltern in Brandenburg sowie die in Ost-Berlin zurückgelassene Frau observierten. Vier IM überwachten den Profi in Kaiserslautern und später Braunschweig auf Schritt und Tritt. Dies dokumentierte unlängst eine Ausstellung im Bildungszentrum der Stasi-Unterlagen-Behörde in Berlin mit bisher unbekannten Dokumenten.

Andere BFC-Spieler hielt der Tod von Eigendorf nicht davon ab, gleichfalls vor dem Mauerfall im Westen zu bleiben. Stürmer Falko Götz und Abwehrspieler Dirk Schlegel nutzten vier Jahre später eine Europacup-Reise nach Belgrad zur Flucht. Der spätere Hertha-Trainer Götz vermied es, politische Gründe für seine Flucht anzugeben. Dennoch konnte er später in seiner Opfer-Akte nachlesen, wie präzise seine Wohnung in Leverkusen von der Stasi observiert worden war. (dpa)