Von Stefan Becker
„Hat jemand den Schraubenzieher gesehen?“ Jemand hat ihn tatsächlich gesehen und reicht das Werkzeug rüber. Marco Canevacci bedankt sich und schraubt eine kleine Schalter-Box auf. Die Zeit drängt: Auf dem Boden des Theaterplatzes liegt ausgebreitet eine riesige weiße Plane mit sieben Kammern und wartet auf Luft. Die liefern drei kleine Turbinen, sie sollen die schlaffe Hülle in ein begehbares Schlauchboot verwandeln – 3 Meter hoch und 30 Meter lang.
Der Leuchtturm für Lampedusa
Lifeboat Chapter 5
Die Uhr tickt, doch der Regler zickt. Die Sonne hat sich hinter der Hofkirche erhoben und scheint auf den Theaterplatz. Passanten bleiben stehen und fragen, was dort passiert. Dann laufen die Turbinen an und das „Lifeboat Chapter 5“ kommt langsam in Form. Kein futuristischer Heißluftballon bläst sich da auf, keine überdimensionale Hüpfburg, sondern eine gewaltige Installation.
Die transparente Kreation basiert auf einer Idee der internationalen Künstlergruppe „Plastique Fantastique“. Vor zwei Jahren habe sich das Kollektiv aus Berlin daran gemacht, das überdimensionale Flüchtlingsboot zu bauen. Premiere feierte es in der Hauptstadt, gastierte vergangenes Jahr in Holland und steht von Donnerstag bis Samstag auf dem Theaterplatz in Dresden vor klassischer Kulisse und gegenüber der temporären Frei-Raum Bühne.
In den kommenden Monaten gehören verschiedene Events zum Dresdner Kulturfest „Am Fluss – zu Kulturen des Ankommens“. Das Kooperationsprojekt vom Kunsthaus Dresden und dem Societaetstheater hat vor einer Woche begonnen und dauert noch bis zum 30. Mai 2017.
Das Kunsthaus startete mit der „Baustelle Europa“ und platzierte dazu auf dem Jorge-Gomondai-Platz die erste temporäre Kunstinstallation in der Stadt: den Leuchtturm von Lampedusa. Die offene Galerie aus Baustahl und Häuten von gestrandeten Schlauchbooten erzählt bildhaft von der Odyssee unzähliger Migranten übers Mittelmeer.
Ein paar Hundert Meter weiter auf dem Theaterplatz erzählt Homer von der Odyssee seines antiken Helden. Wer in das „Lifeboat“ hineinkrabbelt, erlebt drinnen einen Klangteppich in sieben Sprachen. Die Besucher schreiten durch den u-förmigen Schlauch des Bootes, sehen durch die milchige Folie der Außenhaut die Welt draußen nur noch schemenhaft. Dafür hören sie viele Stimmen, Interviews mit schiffbrüchigen Flüchtlingen und eben Zitate aus dem Kapitel 5 des Werkes, das schon ewig zur Weltliteratur zählt.
„Odysseus verliert seine Mannschaft, sein Schiff, treibt drei Tage und zwei Nächte im Meer, bevor er an Land angespült wird“, fasst Cannevacci die Geschichte zusammen. Neben dem gebürtigen Römer gehören an diesem Donnerstag noch drei weitere Künstler aus Berlin zum Team: Stephanie Grönnert, Julia Lipinsky und Markus Wüste ziehen die Reißverschlüsse der Hülle zusammen, wuchten Sandsäcke im Inneren für den optimalen Faltenwurf am Boden, lassen die Strippen der Lautsprecher verschwinden und kümmern sich um nachträglich platzierte Notausgänge.
Mit den beiden Installationen im öffentlichen Raumen sowie den Konzerten und Ausstellungen des Kulturfestes bekommt das Drama auf dem Mittelmeer weitere Facetten. Bisher engagierten sich primär die Seenotretter des Dresdner Balkan Konvois zu dem Thema und kooperierten für eine Ausstellung jüngst mit dem Verkehrsmuseum Dresden.