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Ein Desaster für Thüringen?

Bildungs- und Kulturinstitutionen in Weimar fürchten um die Effekte, die das Wahldebakel nach sich ziehen könnte.

Von Franziska Klemenz
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Demonstranten vor dem Theater und dem Goethe- und Schillerdenkmal in Weimar demonstrierten am Mittwoch Menschen gegen die Wahl von Kemmerich zum neuen Ministerpräsidenten.
Demonstranten vor dem Theater und dem Goethe- und Schillerdenkmal in Weimar demonstrierten am Mittwoch Menschen gegen die Wahl von Kemmerich zum neuen Ministerpräsidenten. © dpa

Goethe und Geschichte, Bauhaus, Bildung und Buchenwald, vielleicht noch Schiller, Klassizismus oder Walter Gropius sind die gängigen Stichworte: Wenn Menschen an Weimar denken, malt ihr Kopf gern Bilder der Altehrwürdigkeit und der Demut vor deutscher Historie. Studierende, Denkende, Theaterfans und ein versprenkelter Rest zeichnen normalerweise das Straßenbild der Stadt. Dieser Tage dominiert der Protest große Teile der Weimarer Kulturlandschaft.

Die Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten versetzte Thüringen, ja ganz Deutschland einen Hieb. Kaum jemand kann behaupten, geahnt zu haben, dass Ex-Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) den Posten räumen muss. Der FDP-Landeschef Kemmerich war mithilfe der AfD-Stimmen an die Macht gekommen. Für einen Tag. Nach öffentlichem Druck gab er am Donnerstag bekannt, dass er das Amt niederlegen wolle. Beruhigt ist die Situation deswegen noch nicht. Um die Nachwehen sorgt sich jetzt nicht nur die Landespolitik. 

„Kräfteverschiebung zugunsten einer autoritären Rechten“

Institutionen wie die Bauhaus-Universität Weimar, das Deutsche Nationaltheater oder die Stiftung Buchenwald unterzeichneten am Donnerstag zusammen mit dem Weimarer Oberbürgermeister einen Offenen Brief an die Staatskanzlei, in dem sie um die Korrektur der „Kräfteverschiebung zugunsten einer autoritären Rechten“ in Thüringen bitten. 

Ministerpräsident für einen Tag: Am Donnerstag hat Thomas Kemmerich (FDP) bekanntgegeben, dass er sein Amt wieder abgeben wolle.
Ministerpräsident für einen Tag: Am Donnerstag hat Thomas Kemmerich (FDP) bekanntgegeben, dass er sein Amt wieder abgeben wolle. © www.imago-images.de

Winfried Speitkamp, Präsident der Bauhaus-Universität, äußert sich auf Nachfrage besorgt: "Die Ereignisse können verheerende Auswirkungen haben, wenn der Eindruck entsteht, dass es in Thüringen keine demokratisch legitimierte Regierung gibt, dass taktische Winkelzüge wichtiger sind als das Bemühen um eine transparente, engagierte, zukunftsorientierte Politik." Die Bauhaus-Universität Weimar sei "eine Universität mit enormer internationaler Strahlkraft. Wenn die demokratische und offene Kultur in Thüringen bedroht ist, schadet das allen; es schreckt internationale Studierende und Gäste ab", so Speitkamp. 

Das öffentliche Vertrauen in die Politik sei geschwächt worden, heißt es in dem Brief. „Die daraus entstehenden Folgen sind von großer Tragweite für alle Bereiche unserer Gesellschaft, für die Bildung, die Kultur und weit darüber hinaus für das politische Klima in Thüringen und in der Bundesrepublik." Man bitte dringend darum, den Sachverhalt kritisch zu analysieren und den Weg für Neuwahlen freizumachen.

"Einstige Milieubindungen verloren"

Andreas Ziemann, Professor für Mediensoziologie an der Bauhaus-Universität Weimar, sagte dazu gegenüber sächsische.de: „Mit Blick auf die Situation der Uni sehen einige einen erschreckenden Stillstand bevorstehen. Es besteht die arge Sorge, dass in nächster Zeit keine Entscheidungen mehr getroffen werden, dass der Haushalt eingefroren wird und damit auch Gelder für die Uni wegfallen."

Große Unterstützung hätte man als Universität  "von einer solchen Regierung nicht erwarten können. Wenn die AfD auch nur irgendetwas mitbestimmen dürfte, stünden Kultureinrichtungen und Universitäten sicherlich ganz unten auf der Liste."

Man befürchte, dass sich die Wahl negativ auf den Bildungsstandort Thüringen auswirken könne. „Die meisten Leute für unsere Studiengänge bei Medien, aber auch Kunst oder Architektur rekrutieren wir nicht aus Thüringen, sondern aus anderen, auch viel aus den alten Bundesländern. Wir möchten die Größe unserer Studiengänge beibehalten, nicht schrumpfen.“

Andreas Ziemann doziert und lehrt als Professor unter anderem für Mediensoziologie an der Bauhaus-Universität Weimar. 
Andreas Ziemann doziert und lehrt als Professor unter anderem für Mediensoziologie an der Bauhaus-Universität Weimar.  © privat

Wie Ziemann als Soziologe die Situation in Thüringen einschätzt? „Die politischen Parteien haben in den letzten zehn Jahren enorm ihre einstigen Milieubindungen verloren und können Wählerinnen und Wähler nicht mehr als traditionale Kollektivgruppe wie etwa Arbeiterschaft, Bildungsbürgerschaft, Gewerkschaftsangehörige, progressive Intellektuelle an sich binden“, sagt er.

„Die Wählerschaft entscheidet hoch flexibel aufgrund von Sachthemen, aber auch aufgrund emotionaler Einstellungen zu großen Gesellschaftsthemen wie Migrations-, Wohnungs- oder Bildungspolitik.“ Themen seien eher affektiv besetzt als früher, die AfD habe sich als Ort des politischen Protests etablieren können.

"Es ist amoralisch und entspricht nicht dem Wählerwillen"

„Die neuen politischen Koalitionen werden dem Trend flexibler politischer Einstellungen folgen müssen und je nach Sachthema und gesellschaftspolitischen Problemlagen neue, flexible Mehrheiten herbeiführen müssen. Verhandlungspolitik und Verhandlungsgeschick rücken in den Vordergrund – und können demokratische Debatten, Streitkulturen und Entscheidungsprozesse durchaus wieder sehr attraktiv machen.“

Für den Bildungs- und Universitätsstandort Thüringen wünsche man sich eine sach- und forschungsorientierte Landespolitik, „die wissenschaftlich wichtige Themen unterstützt, internationale Forschungskompetenz stärkt und bündelt, gemeinsam neue Themen und Forschungsrichtungen diskutiert und sich nicht zuletzt als global agierendes, kulturoffenes und tolerantes Bundesland zeigt.“

Die Bildungselite, sagt Ziemann, solle sich mit ihrem Protest auf den Straßen und in sozialen Netzwerken bemerkbar machen. „Es ist weiß Gott nicht illegal, was die Politik hier gemacht hat. Aber es ist amoralisch und entspricht nicht dem Wählerwillen.“