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Ein Dorf kämpft um seine Flüchtlinge

Auch das ist Sachsen. Wiederau, ein Ort in Mittelsachsen, will seine Asylbewerber behalten. Und die Bewohner schaffen es und setzen sich gegen den Landrat durch.

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© Robert Michael

Von Thomas Schade

Gemischtes Publikum bevölkert am Donnerstagnachmittag die beiden Zelte im Gewerbegebiet von Wiederau. Eigentlich dürften sich hier nur 60 junge Männer aus dem Irak, dem Iran, Syrien und Afghanistan aufhalten. Doch in dem Camp scheint es Alltag zu sein, dass auch Bürger des Ortes mit an den Biertischen sitzen.

Ein Ort zum Bleiben? In Wiederau haben Flüchtlinge und Einwohner zueinandergefunden. Am Donnerstag liefen die Asylbewerber von ihrer Unterkunft zur Kirche.
Ein Ort zum Bleiben? In Wiederau haben Flüchtlinge und Einwohner zueinandergefunden. Am Donnerstag liefen die Asylbewerber von ihrer Unterkunft zur Kirche. © Robert Michael
Die insgesamt 60 junge Männer kommen aus dem Irak, dem Iran, Syrien und Afghanistan.
Die insgesamt 60 junge Männer kommen aus dem Irak, dem Iran, Syrien und Afghanistan. © Robert Michael
Am Donnerstag machten sie sich auf den Weg von der Erstunterkunft zur Kirche in Wiederau.
Am Donnerstag machten sie sich auf den Weg von der Erstunterkunft zur Kirche in Wiederau. © Robert Michael
Meist sitzen aber Pfarrer und Gemeindemitglieder bei den Flüchtlingen in der Unterkunft.
Meist sitzen aber Pfarrer und Gemeindemitglieder bei den Flüchtlingen in der Unterkunft. © Robert Michael

„Was sich hier entwickelt hat, zeigt, dass es nicht nur Dunkelsachsen gibt“, sagt Wolfram Günther, Landtagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen. Er wohnt in einem der Nachbarorte und geht im Camp ebenfalls ein und aus. An diesem Nachmittag herrscht so etwas wie Alarmstimmung. Denn der Landkreis Mittelsachsen hat kurzfristig angekündigt, dass die 60 Flüchtlinge in eine andere Unterkunft nach Rossau verlegt werden sollen. Angeblich seien die Heizungskosten zu hoch. Es sei eine wirtschaftliche Entscheidung, heißt es.

„Aber wir wollen nicht, dass sie gehen“ – so lautet die übereinstimmende Auskunft aller anwesenden Dorfbewohner im Zelt. Unter ihnen sind der Pfarrer, Glieder der Kirchgemeinde, Rentner, junge Leute, Hausfrauen, Vertreter vom Sportverein. Alle plaudern mit den Flüchtlingen wie gute alte Bekannte, man begrüßt und umarmt sich. Sollten die Flüchtlinge verlegt werden, wäre das ein „menschliches Desaster“, sagte auch CDU-Bürgermeister Johannes Voigt der Rochlitzer Zeitung.

Am späten Abend setzen sich die Dorfbewohner nach einer hochemotionalen Debatte mit ihrer Forderung durch. Die Flüchtlinge dürfen im Ort bleiben. Landrat Matthias Damm beugt sich dem Willen der Versammelten und nimmt Abstand von seinem Plan, die Flüchtlinge zu verlegen.

Seit 22. Dezember ist das als Notunterkunft deklarierte Quartier belegt. Auch in Wiederau gab es vorher Protest. Und eine fremdenfeindliche Gruppe feiert die angekündigte Verlegung auf ihrer Facebook-Seite schon als „Teilerfolg“.

Doch sie haben nicht mit der Zivilcourage und dem Bürgersinn von mehr als einhundert Einwohnern gerechnet. Die sind entschlossen und kämpfen um ihre Flüchtlinge. Der 39-jährige Wortführer der Gruppe, ein Händler aus der Gegend, gehörte zu den Ersten, die der Gemeinde schon vor der Ankunft der Migranten angeboten hatten, bei der Integration zu helfen. Aus Furcht vor geschäftlichen Nachteilen will der Mann seinen Namen nicht nennen, bittet um Verständnis und sagt: „Auch hier gibt es nicht nur gute Menschen.“

In den zehn Monaten haben zahlreiche Einwohner aus der Gemeinde ungewöhnlich freundschaftliche Kontakte zu den Flüchtlingen geknüpft. „Wir haben für alle, die es wollen, Deutschunterricht organisiert“, sagt der 39-Jährige. Studenten und pensionierte Lehrer seien fast jeden Nachmittag im Camp. Die Flüchtlinge würden in die Familien eingeladen. Man koche zusammen, unternehme gemeinsame Ausflüge. Es gebe Handwerker, die würden sofort Leute einstellen. Jeder im Camp habe mittlerweile einen Paten – der Schützling des Händlers heißt Mohamed.

Der junge Afghane erzählt, dass sich in Schneeberg keiner um ihn gekümmert habe, hier lerne er Deutsch, und die Einwohner hätten ihn gut aufgenommen. Zum Beweis schreibt er an die Schultafel: „Wir wollen in Wiederau bleiben und wir wollen nicht nach Rossau gehen“. Mohamed erzählt, dass er daheim im vierten Jahr die Koranschule besuchte, als die Taliban kamen und ihn rekrutieren wollten. Da habe sein Vater Geld gesammelt und ihn nach Europa geschickt.

Um zu zeigen, wie ernst es ihnen ist, hatten die Wiederauer und ihre Flüchtlinge am Nachmittag gemeinsam das Camp verlassen und sind in die Dorfkirche gezogen. Von dort werden die Flüchtlinge mit zu ihren Paten nach Hause gehen.