Teresa Dapp
London. Turbulente Zeiten kommen auf die britische Labour-Partei zu, wenn man Umfragen und Buchmachern glaubt. Denn die wollen schon wissen, wer am 12. September den Parteivorsitz übernimmt: ein stramm Linker mit einer Vorliebe für Tabubrüche namens Jeremy Corbyn. Einer, in dem viele den Sargnagel der Partei sehen, einen rückwärtsgewandten Spinner. Aber auch einer, der sein Publikum mitreißt und eine kleine „Corbyn-Mania“ ausgelöst hat.
Ab Freitag wählen die britischen Sozialdemokraten den Nachfolger des zurückgetretenen Wahlverlierers Ed Miliband. Schon der Wahlkampf rüttelt die Partei ordentlich durch: Es tobt ein Richtungsstreit um die Labour-Seele.
Vier Kandidaten stehen zur Wahl, und wäre Corbyn nicht, ginge es dröge zu. Liz Kendall will den regierenden Konservativen von Premierminister David Cameron möglichst viele Wähler abspenstig machen und vertritt die unter Tony Blair erdachte, wirtschaftsliberale New-Labour-Philosophie. Andy Burnham und Yvette Cooper stehen für gemäßigte Labour-Ideen, die aus deutscher Sicht keine Aufreger sind.
Tabubrüche mit leiser, freundlicher Stimme
Und dann ist da Corbyn, ein schmaler Bartträger mit dem Kleidungsstil eines Sozialkundelehrers. „Der Mann, der das Rennen um die Führung in Brand gesetzt hat“, so beschreibt der „Independent“ den 66-Jährigen. Mit leiser, freundlicher Stimme bricht er Tabus: weg mit britischen Atomwaffen, raus aus der Nato. Bescheidenes internationales Auftreten statt „neo-kolonialer Kriege“, die sich als Schutzinitiative für Menschenrechte tarnen. Mehr Sozialstaat und, jawohl, Verstaatlichungen, etwa der Energieversorger. In britischen, vor allem in englischen Ohren, ist das Zündstoff, geradezu unverschämt.
Ein Rückblick: New Labour hat die Partei in den 90ern neu belebt und wählbar gemacht über das klassische Arbeitermilieu hinaus. Von 1997 bis 2010 waren die Sozialdemokraten an der Macht. Tony Blair ist heute unbeliebt im Land, aber das hat vor allem mit dem Irakkrieg zu tun. Unter seinem Nachfolger Gordon Brown rückte die Partei nur ein kleines Stück nach links - und verlor die nächste Wahl. Seit 2010 regieren wieder die Konservativen, seit Mai dieses Jahres mit absoluter Mehrheit. Spitzenkandidat Ed Miliband, der sich selbst eher links verortete und von den Gewerkschaften zum Parteichef gemacht worden war, ist gescheitert.
Kommen Klassenkämpfe der Thatcher-Ära zurück?
Kein Wunder, dass viele Labour-Köpfe in Corbyn den drohenden Untergang sehen, allen voran Tony Blair. Der Partei drohe die „Vernichtung“, nie zuvor habe sie in so „tödlicher Gefahr“ geschwebt. Corbyns Politik bringe die Klassenkämpfe der Thatcher-Ära zurück, doch fehle heute im Vergleich zu den 80er Jahren die stabilisierende Kraft der Gewerkschaften, die größtenteils in der Hand der „harten Linken“ seien.
Londons ehemaliger Bürgermeister und Labour-Rebell Ken Livingstone dagegen sieht in Corbyn die größte Chance seiner Partei, bei der Wahl 2020 etwas zu reißen. Miliband sei zu zurückhaltend gewesen, nicht zu links. Gegen wen ein künftiger Labour-Chef ins Rennen gehen würde, ist offen; Premier Cameron hat eine dritte Amtszeit ausgeschlossen.
Fest steht, dass Corbyn trotz seiner sanften Art mitreißt, vor allem junge Wähler und die vielen, die im Geldbeutel nichts merken vom angeblichen wirtschaftlichen Aufschwung ihres Landes. Kommentatoren vergleichen ihn mit linken Spargegnern wie Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien. Tausende sollen es sein, die sich bis Mittwoch registrieren ließen, um für Corbyn zu stimmen.
Problem „Unterstützer“-Stimmen
Das Wahlsystem steht heftig in der Kritik, da nicht nur Mitglieder und Gewerkschafter online oder per Post abstimmen können, sondern erstmals auch sogenannte Unterstützer. Eine Stimme kostet drei Pfund (4,20 Euro). Vor allem Corbyns Gegner fürchten, dass Gegner der Labour-Partei sich in die Wahl einschleichen, um den linken und vermeintlich unwählbaren Kandidaten an die Spitze zu hieven.
Wie stehen Corbyns Chancen? Kurz vor der am Freitag beginnenden Wahl sah ihn eine YouGov-Umfrage im Auftrag der konservativen „Times“ bei 53 Prozent - und 32 Prozentpunkte vor dem nächsten Verfolger, Andy Burnham. Sollte er gewinnen, fürchten viele seiner Gegner eine Spaltung der Partei. Eine einflussreiche, linke Alternative zu den Sozialdemokraten, wie die Linke in Deutschland, gibt es in Großbritannien bisher nicht. (dpa)