Merken

Ein Messer in jeder Hand

Das Polizeimuseum Dresden sammelt Beweisstücke sächsischer Krimigeschichte. Auch zwei Küchenmesser gehören dazu. Mit ihnen versetzte 1999 ein Schüler das Meißner Gymnasium in Angst und Schrecken.

Teilen
Folgen
© momentphoto.de/bonss

Von Thomas Schade

In Dresden lebt ein Mann um die 30, der die polizeihistorische Sammlung in der Schießgasse wohl nie besuchen würde, wenn er wüsste, dass dort zwei Messer liegen, mit denen er schon einmal zu tun hatte. Mit ihnen hat er sich um seine Jugend gebracht.

Eine Schülerin des Gymnasiums Franziskaneum in Meißen trauert im November 1999 um die ermordete Lehrerin Sigrun Leuteritz, die nur 44 Jahre alt wurde.
Eine Schülerin des Gymnasiums Franziskaneum in Meißen trauert im November 1999 um die ermordete Lehrerin Sigrun Leuteritz, die nur 44 Jahre alt wurde. © MKL

Wenn, dann fallen Kinder und Teenager eher durch Delikte wie Diebstähle, Beleidigungen oder Keilereien auf. In den Verbrechensstatistiken sind sie eher Opfer als Täter. Auch in der polizeihistorischen Sammlung findet man dafür Beispiele. So steht dort jene Sperrholzkiste, in die die Dresdner Schülerin Stephanie R. von ihrem Peiniger eingesperrt worden war. Mario M. hatte das Mädchen im Januar 2006 entführt und fast fünf Wochen gefangen gehalten. Dann gelang es ihr, beim nächtlichen Spaziergang mit Mario M. einen Zettel mit einem Hilferuf abzulegen. So fand die Polizei die Spur zu der Wohnung.

Nur ein paar Vitrinen weiter liegt ein schmuckloser Schminkkoffer. Eine Frau, die mit ihrem Sohn im September 2003 in der Nähe von Riesa Birnen pflücken wollte, hatte das schwarze Beautycase gefunden. Es lag neben einem Feldweg im Graben. Darin fand sie ein neugeborenes Kind, das nur wenige Minuten lebte und dann erschlagen worden war. Acht Wochen später gestand eine 27-jährige Frau aus Riesa, dass sie das Kind getötet hatte. Die Polizei war ihr nach über 300 DNA-Tests auf die Spur gekommen. Sie wurde wegen Totschlags zu drei Jahren, neun Monaten verurteilt.

Der Schminkkoffer und die Holzkiste erinnern an Opfer schwerer Straftaten im Kindesalter. Die beiden Messer aber waren die Waffen eines 15-Jährigen, der zum Mörder wurde und sich heute wohl selbst nicht erklären kann, wie es dazu kam.

Im Herbst 1999 lebte der Junge in einem kleinen Ort bei Meißen in einer Neubauwohnung bei seinen Eltern. Sein richtiger Name soll geschützt bleiben, deshalb heißt er an dieser Stelle Sven Grahl. Er liebte den Sport mehr als die Schule. Keine optimale Einstellung auf einem altehrwürdigen Gymnasium wie dem Meißner Franziskaneum, wo Leistungsdruck Schulalltag ist. Sven musste sich strecken, um dem Lernstress standzuhalten. Anderen fiel das leichter. Dennoch war er kein Außenseiter. Aber der Druck hatte in ihm eine gefährliche Reaktion ausgelöst: Er begann Lehrer zu hassen, die von ihm verlangten, was er kaum leisten konnte. Darunter auch seine Geschichtslehrerin Sigrun Leuteritz.

Die 44-Jährige hatte selbst ein Herz für den Sport, war Rettungsschwimmerin, fuhr Ski und surfte. Auch sie hatte einen Sohn, den sie allein großzog. Sie kannte die Gefühlswelten der Teenager, äußerte Verständnis dafür, dass junge Leute mal über die Strenge schlagen. „Schließlich sind durchgemachte Nächte ein Vorrecht der Jugend“, sagte sie einmal. Aber im Unterricht zählte für sie die Leistung. Die forderte Sigrun Leuteritz schon mal mit drastischen Worten wie: „Was hast du da für einen Mist gemacht, du Kunde.“ So erzählte es später ein Schüler. Ein Ton, der wohl signalisieren sollte, dass sie sich gar nicht so viel älter fühlte als ihre Schüler .

Das aber empfand Sven Grahl am Morgen des 9. November 1999 ganz anders, als er die elterliche Wohnung verließ und wenig später im Zug nach Meißen saß. Statt der Schulsachen hatte er zwei Küchenmesser im Campingbeutel und Wechselwäsche. Er war nicht der einzige Schüler im Zug, der zum Gymnasium wollte. Aber keinem fiel auf, dass Sven einen Schlafsack mithatte. Vor dem Gymnasium verabschiedet er sich anders als sonst, umarmte die Kumpels. So, als ob er auf eine lange Reise gehen wollte, erzählte später ein Schüler. Svens Klasse, die 9.1, hatte in der ersten Stunde Geschichte bei Sigrun Leuteritz. Es ging um das Jahr 1989 und den Fall der Mauer. Sven fehlte, als die Lehrerin um 7.50 Uhr den Unterricht eröffnete. Eine Viertelstunde später wurde die Tür zum Klassenzimmer aufgerissen. Ein Maskierter stürzte herein: schwarz gekleidet, mit einer Sturmhaube auf dem Kopf und einer Sonnenbrille vor den Augen. So schilderten Schüler den Augenblick. „Was ist denn jetzt los?“, habe die Lehrerin forsch gesagt. Es waren ihre letzten Worte.

Der Maskierte hatte ein Messer in jeder Hand und stach sofort auf Sigrun Leuteritz ein. Offenbar voller Hass und mit großer Wucht: Eine Klinge verbog sich. Die Mädchen flüchteten in Todesangst in die hinteren Bänke. Alle mussten ansehen, wie der etwa 1,70 Meter große Unbekannte die Lehrerin umbrachte und danach aus dem Zimmer rannte. Einige Jungen glaubten, den Täter zu kennen. „Wir konnten nichts machen“, erzählte einer später.

Sigrun Leuteritz wankte auf den Flur, brach zusammen und starb in den Armen des Rektors, noch ehe ihre Mutter herbeieilen konnte, die als Russischlehrerin ebenfalls am Franziskaneum unterrichtete. Ihr 19-jähriger Sohn erfuhr vom Tod seiner Mutter vermutlich bei der Bundeswehr, wo er seinen Dienst absolvierte.

Das Gymnasium, das zwei Jahre zuvor sein 90-jähriges Bestehen gefeiert hatte, verfiel in einen Schock, der Unterricht ruhte. Die Polizei suchte im Gebäude nach Mittätern. Psychologen und Seelsorger versuchten, traumatisierten Schülern und Lehrern zu helfen. Viele sahen, wie der Leichenwagen die Lehrerin abholte.

Schon am Abend und am nächsten Tag war der Lehrer-Mord im Meißner Gymnasium in den Schlagzeilen. Eine Debatte über Gewalt an ostdeutschen Schulen begann, Politiker forderten, den Film „Tötet Mrs. Tingel“ abzusetzen, in dem sich Schüler an ihrer Geschichtslehrerin rächen. Mehr als 1 000 Schüler und ihre Lehrer erlebten, wie aus ihrem Franziskaneum das „Gymnasium des Schreckens“ wurde.

Zu dieser Zeit war der maskierte Täter bereits in Polizeigewahrsam. Die Beamten hatten kein Problem, ihn zu identifizieren. Der Täter hatte auf der Flucht im Schulhaus seinen Campingbeutel verloren. Darin fand man den Schülerausweis von Sven Grahl. Er hatte seine Lehrerin mit 21 Messerstichen umgebracht, wie Gerichtsmediziner feststellten. Eine Zivilstreife nahm Sven Stunden nach der Tat am Stadtrand von Meißen fest, wo er zu Fuß unterwegs war. Er gestand die Tat.

Schnell schossen Gerüchte ins Kraut. Von verschmähter Liebe der Geschichtslehrerin war die Rede, von Kirchgängen mit seiner Mutter und Halloween-Filmen, die Sven mit Vorliebe guckte. Spekulationen, die kaum zur Klärung der Frage nach dem Motiv beitrugen. Anders war es mit einer Wette, von der Schüler wussten, und mit Svens Ankündigungen, dass er seine Geschichtslehrerin hasste und eines Tages ermorden würde.

All das wurde auch bei der Polizei aktenkundig, die Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen wegen des Verdachtes der Mitwisserschaft gegen Mitschüler ein. Einige mussten sich selbstkritisch fragen, ob sie den Mord hätten verhindern können. Sie hätten Sigrun Leuteritz das Leben retten und Sven von dem Mord abhalten können. Aber keiner hatte dessen Ankündigungen ernst genommen, keiner hatte ihm so etwas zugetraut. Nach Monaten stellte die Polizei diese Ermittlungen ein.

Im Mai des folgenden Jahres musste sich Sven Grahl vor dem Dresdner Landgericht für den Mord im Klassenzimmer verantworten. Weil er als Jugendlicher ein besonderes Recht auf Persönlichkeitsschutz hatte, war die Öffentlichkeit vom Prozess ausgeschlossen. So sahen nur die Beteiligten die beiden Messer und die Sturmhaube, mit denen er die Tat begangen hatte. 23 Zeugen sagten aus, darunter 13 Schüler. Danach waren die Richter überzeugt, dass einige Schüler mit Sven gewettet hatten, dieser werde seinen mörderischen Plan nicht in die Tat umsetzen. Sie sprachen von einem „wichtigen äußeren Anlass“ für den Mord, der aus Hass verübt worden sei. Das Gericht billigte Sven zu, dass er bei der Tat in einer psychischen Ausnahmesituation stand, sein Handeln nur vermindert steuern konnte und deshalb nicht voll schuldfähig war. Er musste für siebeneinhalb Jahre in Haft.

Experten sprachen 1999 von einem „krassen Einzelfall“. Doch nur drei Jahre später verübte der 19-jährige Robert Steinhäuser am Erfurter Gutenberg-Gymnasium den ersten Amoklauf in der deutschen Schulgeschichte: Er erschoss zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei Schüler, einen Polizisten und sich selbst. Im März 2009 kam es zu einem zweiten Drama rund um die Albertville-Realschule in Winnenden bei Stuttgart. Dort tötete der 17-jährige Tim Kretschmer 15 Menschen und sich selbst.

Lesen Sie in der nächsten Folge über den sächsischen Hauptmann von Köpenick.

Die polizeihistorische Sammlung in der Polizeidirektion in der Dresdner Schießgasse ist nur nach Voranmeldung zu besichtigen. Telefon: 0351/4833447.

[email protected]