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Ein Ort vom Reißbrett

Eisenhüttenstadt ist die einzige nach 1945 neu gegründete deutsche Stadt. 1950 als erste sozialistische Stadt geplant, ringt sie nun mit dem Niedergang.

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Von Leticia Witte

Am Anfang war nur der märkische Boden mit seinen Bäumen. Inge Grund erinnert sich: „Wir haben kleine Bäume herausgerissen, größere gefällt. Für das Hochofenfundament haben wir die Grube ausgehoben.“ In den 1950er-Jahren war sie als junge Frau dabei, als im Osten der DDR ein großes Stahlwerk und zugleich die erste sozialistische Musterstadt mit viel Arbeit fast aus dem Nichts wuchsen – in unmittelbarer Nachbarschaft des Örtchens Fürstenberg an der Oder. Die neue Siedlung heißt Eisenhüttenstadt und gilt als eine der wenigen Stadtgründungen nach 1945 auf deutschem Boden.

Spötter sagen „Schrottgorod“

Die auf dem Reißbrett entstandene Stadt sollte den Arbeitern nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges moderne Wohnungen, ein Theater, Versorgung und Kinderkrippen bieten. Am kommenden Wochenende feiert die brandenburgische Stadt an der deutsch-polnischen Grenze mit einem Fest ihren 60.Geburtstag.

„Andere haben noch in Ruinen gewohnt, hier wurde mit Dekadenz gebaut“, sagt die Geschäftsführerin des Tourismusvereins Oder-Region Eisenhüttenstadt, Kathrin Henck. Unweit des Stahlwerkes wurden Wohnkomplexe mit Arkaden, Fassadenschmuck, Balkonen und Grünflächen hochgezogen. „Es sollte eine Vorzeigestadt sein.“

Als Gründungsdatum gilt die Grundsteinlegung für das Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) am 18. August 1950. Wenige Wochen zuvor war mit einem symbolischen ersten Axthieb der Bau des Industriekomplexes begonnen worden, zu dem die erste sozialistische Wohnstadt gehören sollte. 1953 erhielt der Ort zunächst den Namen Stalinstadt, 1961 wurde der Ort umbenannt und erhielt in Anlehnung an das Eisenhüttenkombinat Ost den Namen EKO-Wohnstadt. Eingebürgert hat sich Eisenhüttenstadt. Der Volksmund sagt manchmal etwas lieblos auch „Schrottgorod“. Gorod ist der russische Begriff für Stadt.

„Die Geschichte der DDR kann man an dieser Stadt ablesen“, meint Henck. Während in den Aufbaujahren Arbeiterpaläste entstanden, seien die Gebäude der sieben Wohnkomplexe zuletzt immer schmuckloser geworden – aus ihrer Sicht eine Parallele zur Entwicklung der DDR. „Heute sind wir eine Stadt von vielen.“ Eine, die wegen ihrer Geschichte und ihres Erscheinungsbildes dennoch Architekturfreunde und Touristen anzieht.

Die Einheimischen mussten nach dem Untergang der DDR mit Arbeitslosigkeit, Abwanderung und dem Bedeutungsverlust ihrer Stadt kämpfen. 1990 lebten hier mehr als 50000 Menschen, wie die heutige Bürgermeisterin Dagmar Püschel (Linke) sagt. Gegenwärtig gebe es nur noch knapp 31000 Eisenhüttenstädter, der Altersdurchschnitt liege bei rund 48 Jahren. „Viele junge Leute verlassen die Stadt, weil sie hier für sich keine Perspektive sehen“, so Frau Püschel. Die Arbeitslosenquote gibt Püschel mit zwölf Prozent an. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten steige jedoch, versichert die Bürgermeisterin.

Während das Stahlwerk einst 12000 Menschen Arbeit geboten habe, seien heute im Werk von ArcelorMittal und den Betrieben im Umfeld nur noch die Hälfte beschäftigt. Mehr als 160 neue Arbeitsplätze habe kürzlich die Eröffnung der nach Unternehmensangaben größten deutschen Papierfabrik gebracht. Drei Wohnkomplexe nahe der großen Magistralen stehen heute in Eisenhüttenstadt unter Denkmalschutz – andere der einst begehrten Wohnungen wurden wegen Leerstandes abgerissen.

Kleine Häuschen auf Brachen

Von 2003 bis 2009 verschwanden 4400 Wohnungen, gerade bei den stark verwurzelten Eisenhüttenstädtern ein umstrittener Vorgang, wie die Bürgermeisterin berichtet. Auf den neuen Brachen sollen laut Püschel zum Teil Einfamilienhäuser entstehen, um Bewohner in der Stadt zu halten. Ziel sei es auch, kulturelle Angebote weiterzuentwickeln und den Wassertourismus in der Oder-Stadt zu stärken.

Die 76 Jahre alte Eisenhüttenstädterin Inge Grund zeigt sich skeptisch. „Man hat manchmal den Eindruck, es geht den Bach runter“, sagt sie und lässt ihren Blick über die Straße der Republik schweifen, eine der Magistralen. Vor Jahrzehnten seien die Menschen glücklich gewesen, wenn sie eine der begehrten Wohnungen bekommen konnten. Heute sei da Leerstand. Dennoch habe sie die Hoffnung für ihre Stadt nicht aufgegeben. (dpa/SZ)