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„Eine Enteignung gab es nie!“

Eine Holländerin ist die letzte Zeitzeugin für das Kaufhaus Bruns auf der Steinstraße. Es bestand bis etwa 1955.

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Von Ralph Schermann

Im Sommer 1946 reiste eine junge Holländerin nach Görlitz. Margreta Grashuis kam im Auftrag des Niederländischen Roten Kreuzes nach Ostsachsen. Die 24-Jährige sollte holländische Bürger aufspüren. Je nach Ergebnis einer Überprüfung wurden diese Landsleute dann entweder verhaftet oder, wenn nichts gegen sie vorlag, mit Lebensmittelpaketen unterstützt.

Beim jüdischen Händlerboykott im April 1933 standen SA-Posten vor dem Kaufhaus Totschek (Bild links). Ab 1935 firmierte das Geschäft als Bekleidungshaus Bruns & Co. Repros: Ratsarchiv; Sammlung Margreta Bruns
Beim jüdischen Händlerboykott im April 1933 standen SA-Posten vor dem Kaufhaus Totschek (Bild links). Ab 1935 firmierte das Geschäft als Bekleidungshaus Bruns & Co. Repros: Ratsarchiv; Sammlung Margreta Bruns

In Görlitz empfahl man ihr, Theodor Bruns aufzusuchen. Der Kaufmann würde ebenso wie die junge Frau aus Arnhem stammen, der Hauptstadt der niederländischen Provinz Gelderland. Bruns freute sich, mal wieder in seiner Muttersprache reden zu können. Für Margreta Grashuis aber hatte dieser Besuch Folgen: Zwei Jahre später heiratete sie einen der Bruns-Söhne.

Damit wurde sie vertraut mit der Geschichte des Kaufhauses auf der Steinstraße 2 - 5 und ist heute eine der letzten Zeitzeugen. Mehrmals im Jahr besucht die jetzt 95-jährige, erstaunlich geistig wie körperlich sehr rege Dame ihre Tochter in Görlitz, dabei stets nach dem ehemaligen Haus schauend. Dass es heute meist nur als Kaufhaus Totschek und Zeugnis der Unterwerfung jüdischer Händler unter die Nazi-Diktatur genannt wird, ärgert sie. Denn die Geschichte des Handelshauses währte länger.

Das Kaufhaus war 1868 von Adolph Totschek (1842 - 1901) als Geschäft für Herren-, Damen-, Mädchen- und Knabenkonfektion gegründet worden. Nach dem Tod Adolph Totscheks übernahm Sohn Walter (* 1875) das aus vier Gebäuden bestehende Geschäft. Nach allem, was Margreta von ihrem Schwiegervater weiß, hatte Walter Totschek immer die Absicht, bei Erreichen des 60. Lebensjahres zu verkaufen, um mit der Familie nach Berlin zu ziehen. Die ersten Angriffe von bewaffneten SA-Leuten auf alle Geschäfte jüdischer Inhaber 1933 dürften Totschek in diesem Vorhaben bestärkt haben, zumal den Juden 1933 auch ein Werbeverbot auferlegt worden war. Seine langjährigen Mitarbeiter Theodor Bruns, Martin Eppich und Richard Scheeler gründeten eine Offene Handelsgesellschaft (OHG) zum Betrieb der Firma „Bruns & Co. vormals Totschek“. Diese mietete das Warenhaus und betrieb es ab 1935. Im November 1938 erfolgte der Verkauf zum offiziellen Schätzpreis von 120 000 Reichsmark an Theodor Bruns. Der gebürtige Niederländer war bereits am 9. August 1938 mit seiner Frau Helene nach Rotterdam gereist, um sich in den Niederlanden Geld für den Kauf zu beschaffen. „Dass Walter Totschek an meinen Schwiegervater verkaufte, lag auf der Hand“, erzählt Margreta Bruns: „Beide waren eng befreundet.“

Hausverkauf erzeugte auch Neid

Die Kompagnons Martin Eppich und Richard Scheeler indes beschwerten sich. Wie könne ein Niederländer etwas bekommen, das ihnen als „echten Deutschen“ zustünde? Sie zeigten Theodor Bruns für angebliche Devisenvergehen wegen des aus Holland geholten Geldes an. Mit ihrer Klage beauftragten sie den Görlitzer Rechtsanwalt Dr. Uhlmann – ohne Erfolg. Dem über den Notar Dr. Schwidtal abgewickelten Verkauf bescheinigte sogar das Finanzamt absolute Unbedenklichkeit, und unter den verbliebenen Dokumenten findet sich eine Erklärung im Auftrag des damaligen Oberbürgermeisters Hans Damrau, dass zum Verkauf an Theodor Bruns „keinerlei Bedenken“ bestehen und Totschek nie vorhatte, an Eppich oder Scheeler zu verkaufen. Fortan wurde die Steinstraße 2 bis 5 als Konfektionshaus Bruns geführt. Nach dem Tod Theodor Bruns 1948 übernahm dessen Schwiegersohn Franz Dobrowohl die Leitung. Zum Überleben eines Konfektionshauses in karger Nachkriegszeit trug sicher mit bei, dass die sowjetischen Besatzer bei der Firma Bruns Uniformen fertigen ließen. 1951 übernahm der bisherige Buchhalter die Leitung des Hauses, etwa 1955 kam es in staatliche Verwaltung. Enteignet wurden die Hausbesitzer nie.

Totschek lebte ab 1935 in Berlin. Er lud die befreundete Familie Bruns ein, die Olympischen Spiele 1936 zu besuchen. Kurz bevor die Nazis 1941 Juden die Ausreise untersagten, übersiedelte Walter Totschek mit Frau Bianca und Tochter Gerdi (19) in die USA. Tochter Ursula Ida war bereits Anfang 1939 als 13-Jährige mit einem englischen Transport nach London gelangt. 1946 emigrierte sie in die USA. Walter Totschek starb 1944 in New York.

Margreta Bruns wurde 1953 denunziert und eingesperrt. Die Russen wollten, dass sie für die sowjetische Kommandantur in Görlitz arbeitet – oder in die Niederlande zurückgeht. Sie entschied sich für Letzteres. Bis zum 90. Lebensjahr leitete sie ein Freizeitheim für Senioren und Behinderte. Dafür verlieh ihr die Königin 2006 die höchste Auszeichnung für Aufopferung im Ehrenamt, den niederländischen Verdienstorden („Orde van Oranje-Nassau“).

Beim Warenhaus endete 1990 die staatliche Verwaltung. Auch wenn es kurzzeitig Karstadt als Technik-Geschäft nutzte, gehörte es rechtlich wieder der Familie Bruns. „Dennoch verlangten Totscheks Nachfahren die Rückübertragung eines nie enteigneten und mit ordnungsgemäßem Vertrag erworbenen und bezahlten Gebäudes“, erklärt Margreta Bruns. Ein Rechtsstreit zog sich über Jahre. Als die Anwaltskosten sich einer sechsstelligen Höhe näherten, war die Erbengemeinschaft Bruns finanziell gezwungen, aufzugeben.

Rückerwerb wurde nicht genutzt

Das Haus von nun Totscheks Nachfahren verfiel, steht seit 1996 leer. 2016 diente es als Filmkulisse, vom 20. bis 27. Mai findet in ihm das studentische Kunstfestival „Zukunftsvisionen“ statt. Dafür haben Studenten Schutt und Dreck in Treppenhäusern entfernt, Räume in oberen Etagen begehbar gemacht und den Innenhof von Unkraut befreit. Totscheks Erben haben mittlerweile verkauft, die Rede ist vom Bremer Philipp Metz, dem in Görlitz bereits Gebäude gehören, darunter das Weinberghaus. Was aus dem einstigen Kaufhaus nun wird, ist offen. „Und mir egal“, sagt Margreta Bruns, „nur die Geschichte des Hauses, die muss man auch richtig erzählen.“