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Eine Nacht in der Neustadt

SZ-Reporter unterwegs im Dresdner Kneipenviertel, wo es die Polizei für „gefährlich“ hält. Randale gab es erst nach Mitternacht.

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© Sven Ellger

Von Franziska Klemenz und Christoph Springer

Ein Hieb gegen die Steinkante, der Flaschenboden zerplatzt. Noch ein Hieb, noch eine Flasche, Glassplitter fliegen. Sie zerbröseln im Getrampel der aufgebrachten Männer. Zwei abgebrochene Flaschen umklammert der Randalierer jetzt. Den nackten Oberkörper zum Brett gespannt, stürmt der Tunesier auf seine Widersacher zu, brüllt, ein anderer packt ihn, der 24-Jährige reißt sich wieder los, rennt über den Vorplatz der Scheune. Fünf Minuten vergehen, zehn – keine Polizei. Um 0.37 Uhr fährt ein Mannschaftswagen vor. „Zehn Minuten zu spät“, ruft ein Passant über den Platz an der Alaunstraße.

Mit zwei abgebrochenen Bierflaschen in den Händen tobt der Mann nachts vor der Scheune.
Mit zwei abgebrochenen Bierflaschen in den Händen tobt der Mann nachts vor der Scheune. © Sven Ellger
Nima Emami, Sancha Castro und Antonio Tomas sitzen gern an der belebtesten Neustadt-Kreuzung.
Nima Emami, Sancha Castro und Antonio Tomas sitzen gern an der belebtesten Neustadt-Kreuzung. © Sven Ellger
Auf der Kreuzung Rothenburger/Görlitzer/Louisenstraße kommen sich Bahnen und Feiernde nahe.
Auf der Kreuzung Rothenburger/Görlitzer/Louisenstraße kommen sich Bahnen und Feiernde nahe. © Sven Ellger

Der Platz gehört zu den Orten in der Neustadt, die die Polizei als gefährlich einstuft. Genauso wie der Albertplatz, der Alaunpark und das sogenannte „Assi-Eck“, die Kreuzung Rothenburger/Görlitzer/Louisenstraße. 4 099 Straftaten zählte die Polizei im Jahr 2017 in der Äußeren Neustadt. Die Schwerpunkte sind Raub und Diebstahl, Gewalttaten und Drogenhandel.

Es ist Mittwochabend, eine Momentaufnahme. Viereinhalb Stunden bevor die Polizei den Flaschen-Randalierer festnimmt: Der Weg durch die Alaunstraße führt an Leuchtreklamen und Ibiza-Rhythmen vorbei, an Tafeln, die günstiges Essen versprechen und am Klingeln der Aperol-Spritz-Gläser. Vor der Scheune plaudern Freundinnen, plätschern Feierabend-Biere, üben junge Männer in Jogginghosen ihren Getto-Blick. Zwei Mädchengruppen krakeelen zwischen Schul-Turnhalle und Scheune-Stufen. „Mir scheißegal, dass der die Jule mehr liebt!“ – „Verpiss dich, Digga!“ Ein Mann, Ende 20, im engen, blauen Muskelshirt schlurft mit offener Hose auf einen Stromkasten zu, sackt darauf zusammen, pinkelt gegen die Wand. Unappetitlich? Ja! Gefährlich? Nein.

Gefährlich heißt nicht gefährdet

Am „Assi-Eck“ hängen erste Bier-Fans ab. Bisher so wenige, dass sich die Bahnlinie 13 langweilen könnte. Durch den Alaunpark fliegen Frisbees und Kronkorken, gegen Sonnenuntergang flackern Kerzen. Hier und da mischt sich Marihuanageruch in den Duft von Gegrilltem. Gefahr? Fehlanzeige, zumindest an diesem Abend.

22 Uhr am Albertplatz. Hier sitzt man plaudernd beim Vietnamesen an der Ecke, der Beton vorm artesischen Brunnen liegt blank im Licht der Laternen. Der Albertplatz ist Durchgangsstation. Statt Crystal konsumiert man Reis und Sommerrollen. Eis essende Studentinnen schieben ihre Fahrräder über den Gehsteig, langhaarige Lockenköpfe hasten mit ihrer Pizza Richtung Bahn. Gesättigte Gesichter trotten aus der Alaunstraße, erwartungsvolle strömen hinein.

Vor der Scheune ist den jungen Krakeelerinnen im schwarzen Kunstlederkleid noch immer nicht die Puste ausgegangen, der Pinkel-Mann im Muskelshirt erholt sich beim Schläfchen auf dem Boden. Ab und zu fährt ein Streifenwagen vorbei und verschwindet fast unbemerkt in einer Seitenstraße.

Gegen 23.30 Uhr ist das „Assi-Eck“ zur Hochform aufgelaufen. Etwa 150 Menschen hocken auf Straßen und Gehsteigen, trinken, lachen und rauchen. Spätshop-Besitzer reichen Flaschen im Sekundentakt über die Theke, Flaschensammler picken sie im Slalom wieder auf. Anstrengend? Für Bahnfahrer und Anwohner sicherlich. Bedrohlich? Nein.

Dass die Polizei den Platz als gefährlich etikettiert, verstehen die Besucher nicht. „Ich finde es überhaupt nicht gefährlich. Die Leute sitzen, trinken. Es gehen ein paar Joints rum, aber das ist alles“, sagt Kunst-Studentin Sancha Castro aus Portugal. „Das einzig Gefährliche sind die Autos“, sagt Medizinstudent António Tomás. „Die rasen, als wäre es ihnen egal, dass Menschen auf dem Boden sitzen.“ Dass gefährlich nicht mit gefährdet zu verwechseln ist, stellte die Polizei auch selbst klar. „Gefährlicher Ort heißt nicht gleich unsicherer Ort“, sagte Sprecher Marko Laske. „Das sind Orte, wo mehr Kriminalität stattfindet.“

Auf dem Scheunen-Vorplatz gehören gegen Mitternacht der Krakeele der Kunstleder-Mädchen und das Selbstgespräch eines Betrunkenen noch immer zu den bemerkenswertesten Beobachtungen. Bis eine Gruppe junger Männer auftaucht. Aus Getuschel wird Getöse, aus Gespräch bald Gewalt, zersplitterte Glasflaschen, wildes Getümmel. So lautlos wie die Polizei angerollt kommt, so schnell packen die Beamten den Randalierer auf die Rückbank ihres Autos. Die Schiebetür knallt zu, der Wagen verschwindet und bringt den Mann in seine Unterkunft.

Alexander Neuhaus sitzt in einem syrischen Schnellrestaurant gegenüber der Scheune. Er hat die Polizei alarmiert und den Beamten den jungen Mann beschrieben. „Ich hatte Angst, dass er noch andere bedroht“, sagt der Dresdner. Später muss er sich anpöbeln lassen wegen seines Anrufs bei der 110. „Das wird hier immer schlimmer, es eskaliert jeden einzelnen Abend, am Wochenende noch mehr“, sagt ein benachbarter Gastronom, der anonym bleiben will. „Die Polizei braucht manchmal echt lange. Dann nimmt sie die mit und lässt sie nach einer halben Stunde wieder frei.“ Zerschlagene Flaschen, Messer, Pfefferspray und 14-Jährige, die Drogen nehmen – vor der Scheune sehe er das täglich.

Um 1.30 Uhr sind die Gehwegkanten am „Assi-Eck“ wieder sichtbar, es bleibt ein Meer aus Kronkorken. Taxifahrer warten in Reihe auf die nächsten Heimgeher. „Wenn der Taxistand dicht ist und man aufpassen muss, niemandem über die Füße zu fahren, ist es nervig“, sagt ein 63-jähriger Fahrer. „Aber alles hat seine zwei Seiten. Hier machen wir das lukrativste Geschäft.“