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„Es sah aus wie im Kriegsgebiet“

Hunderte Hooligans und Neonazis legten vor zweieinhalb Jahren eine Straße in Leipzig-Connewitz in Schutt und Asche. Jetzt begann der erste von mehr als 80 Prozessen.

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© picture alliance / dpa

Von Sven Heitkamp, Leipzig

Als IT-Experte Siegfried P. am Abend des 11. Januar 2016 aus dem Fenster seines Arbeitszimmers guckt, wählt er sofort den Notruf der Polizei. Horden junger Männer legen vor seinen Augen die Connewitzer Wolfgang-Heinze-Straße in Schutt und Asche. Sie tragen schwarze Kapuzenshirts, sind vermummt mit schwarzen Tüchern und Sturmhauben. Sie grölen den Schlachtruf „Ho, Ho, Hooligans“, sie zerschlagen Scheiben, sie zerren brennende Mülltonnen auf die Straße. Siegfried P. muss auch mit ansehen, wie die Schläger seinen Skoda mit Metallstangen zertrümmern. „Ich hab noch kurz daran gedacht, mein Auto zu retten. Aber das hab ich lieber bleibenlassen – aus Angst um meine Gesundheit“, erzählt der 54-Jährige am Donnerstag vor dem Leipziger Amtsgericht.

Zwei wegen besonders schweren Landfriedensbruchs Angeklagte betreten den Gerichtssaal.
Zwei wegen besonders schweren Landfriedensbruchs Angeklagte betreten den Gerichtssaal. © dpa

Verhandelt wird dort gegen die zwei 26-jährigen Leipziger Martin K. und Dennis W., die laut Anklage an jenem Abend dabei gewesen sein sollen. Es ist der erste von mehr als 100 Prozessen, die bis ins nächste Jahr geplant sind. „In Connewitz ist man ja Randale gewöhnt“, sagt Siegfried P. „Aber so was ist bei uns noch nie passiert.“

Der 11. Januar ist ein Montag, es ist kurz nach 19 Uhr, es nieselt. In der Innenstadt begeht das islamfeindliche Bündnis Legida zusammen mit Pegida seinen Jahrestag. Tausende Bürger protestieren dagegen, unter ihnen viele Anhänger der Antifa. Mehr als 250 gewaltbereite Hooligans und Neonazis nutzen genau diese Gelegenheit und fallen bewaffnet mit Äxten, Baseballschlägern, Eisenstangen, Feuerwerkskörpern und Zaunslatten voller Nägel in Connewitz ein. 25 Geschäfte, Imbissstuben, Bars und Wohnungen werden von dem Mob angegriffen, manche Ladeninhaber retten sich durch Hinterausgänge. Fünf Polizeibeamte erleiden Verletzungen, ein Dachstuhl gerät in Flammen, 18 Autos werden demoliert. Die Staatsanwaltschaft spricht später von 113 000 Euro Sachschaden. Ein Polizeiführer, der am nächsten Tag den Tatort besuchte, drückt es vor Gericht so aus: „Es sah aus wie im Kriegsgebiet.“

Staatsanwältin Sandra Daute wirft den Angeklagten schweren Landfriedensbruch vor. Jener Straftatbestand gilt, wenn aus einer Gruppe heraus Gewalttaten begangen werden, wenn geplündert und enormer Sachschaden angerichtet wird. Der mögliche Strafrahmen: Sechs Monate bis zehn Jahre Haft. Eine ganz konkrete Tat muss den Beschuldigten dabei nicht nachgewiesen werden. In der Nacht von Connewitz ist die Polizei eigentlich wegen Legida in der Innenstadt flächendeckend präsent. Nach den ersten Notrufen rasen mehrere Hundertschaften nach Connewitz. Pfefferspray wird eingesetzt, ein Wasserwerfer aufgefahren. Bald können die Polizisten die Gewaltorgie beenden. Sie kesseln die militanten und organisierten Angreifer in einer Seitenstraße ein und fesseln sie mit Kabelbindern. Die Festgenommenen werden mit Gefangenentransportern in die Polizeidirektion gefahren. Von 216 Tätern werden die Personalien aufgenommen.

Gewaltbereite Fußballszene

Die Ermittlungen haben sehr lange gedauert. Doch nun beginnen die mehr als 100 Einzelprozesse. Meist wird gegen zwei Verdächtige zugleich verhandelt, um die Justiz zu entlasten. Und das bundesweite Medieninteresse ist groß: Mindestens 30 Journalisten sind am Donnerstagmorgen gekommen. Doch das Amtsgericht ist auf die öffentliche Begleitung nicht vorbereitet und lässt nur einen Teil der Journalisten in den Saal. Der Vorsitzende Richter Marcus Pirk billigt nur 30 Plätze für das Publikum zu, obwohl der Saal mehr Platz bieten würde. Eine ordentliche Akkreditierung gab es nicht. Doch Pirk reagiert weder auf Intervention von Journalisten noch auf Bitten seines eigenen Gerichtspräsidenten Michael Wolting, dem die Behandlung der Presse in seinem Haus sichtlich peinlich ist. Doch auch ihm seien die Hände gebunden, sagt Wolting: Sein Hausrecht ende vor der Saaltür. Die Boulevardpresse titelt schon währenddessen: Justizskandal!

Die Angeklagten indes schweigen. Einer von ihnen versteckt sich vor den Fotografen hinter einer Mappe mit Affengesicht. In einer Verhandlungspause aber drohen ihre Unterstützer einem Vertreter des betroffenen Connewitzer Fußballklubs Roter Stern: „Noch lebst du!“ Etliche der Angreifer werden vom Innenministerium längst den gewaltbereiten Fanszenen des FC Lok Leipzig, von Dynamo Dresden und dem Halleschen FC zugerechnet.

Der Verfassungsschutz kennt bei einem Drittel der Beschuldigten Bezüge zur rechtsextremen Szene. Einige Angeklagte haben Vorstrafen oder tauchen in anderen Strafverfahren auf: wegen Verbindungen zu Neonazi-Vereinigungen, Mitgliedschaft bei der Freien Kameradschaft Dresden und wegen der Krawalle in Heidenau. Interne Chatdaten belegen, dass sich die Angreifer vor ihrem Sturm auf die „Festung Connewitz“ verabredet und Treffpunkte organisiert haben. Die Sicherheitsbehörden wollen von den Plänen nichts mitbekommen haben, was Kritiker angesichts der engen Überwachung der Szene bezweifeln.

Ein Urteil in diesem Prozess wird nächsten Donnerstag erwartet. Andere werden folgen.