Wenn man ganz genau hinschaut und die Vorgeschichte kennt, sagt Kathleen Roll, dann weiß man auch, wer hier wer ist. Sie streichelt ihrem Felix, den sie auf dem Schoss sitzen hat, die Wange. Ein halbes Kilogramm Gewichtsunterschied zu seinem Zwillingsbruder Oskar und ein bisschen mehr Babyspeck sind eine der wenigen noch sichtbaren Erinnerungen an das, was Kathleen Roll und ihr Lebensgefährte Thomas Erler in diesem Jahr durchgemacht haben. Monatelang mussten sie um das Leben ihrer noch ungeborenen Söhne zittern. Dass am Ende alles gut ging und sie alle nun gesund auf einer Couch in Freital sitzen, haben sie einem Arzt im Dresdner Uniklinikum zu verdanken.
Thomas Erler schiebt eine Teetasse hinüber. „Das ist wie, wenn wir beide aus einer Tasse trinken müssen“, sagt der 47-Jährige. Zwillings-Transfusions-Syndrom nennen Ärzte das Phänomen, an dem die Zwillinge litten. Die Baby-Organismen schwimmen in derselben Plazenta, aber können sie nicht brüderlich teilen. Der eine gibt dem anderen einen Großteil seines Bluts ab. Der Spender, in dem Fall Oskar, wächst nicht richtig, der Empfänger, in dem Fall Felix, produziert durch das viele Blut zu viel Urin und damit eine riesige Fruchtblase. Er kann an Herz- und Kreislaufproblemen sterben, sein Bruder verkümmert in der Mutter. Ohne Behandlung bedeutet die Diagnose zu 90 Prozent den Tod der Kinder. Auch das Leben der Mutter ist in Gefahr.
„Gehofft, dass alles gut geht“
Kathleen Roll und Thomas Erler erfahren davon im März. Plötzlich ist ungewiss, wie es weitergeht. „Wir haben erst einmal überall einen Stopp reingehauen. Keinen Kinderwagen, keine Kindersachen“, sagt die 39-Jährige. „Es war irreal. Ich konnte nicht so richtig damit umgehen“, sagt ihr Partner. Einen gebrochenen Daumen kennt jeder. Oder von siamesischen Zwillingen hat jeder schon einmal gehört. Aber nicht vom Zwillings-Transfusions-Syndrom. Wie ernst die Lage sei, habe man nicht realisieren können.
Nach der Diagnose geht es schnell. Zwei Tage später schon liegt Kathleen Roll auf dem Operationstisch im Dresdner Uniklinikum. Jeder weitere Tag hätte die Überlebenschancen der Zwillinge verschlechtert. Per Laserstrahl, eingeführt durch die Bauchdecke, werden die Ungeborenen in der 18. Schwangerschaftswoche voneinander getrennt. Erst nach 24 Stunden ist klar, dass die Kinder den Eingriff überlebt haben. „Das waren so minikleine Schritte, an denen wir uns entlanggehangelt haben“, sagt Thomas Erler. Als die 24. Schwangerschaftswoche erreicht ist und feststeht, dass die Zwillinge überlebensfähig sind, ist die nächste Etappe geschafft. Doch die Ungewissheit, ob die Kinder gesund sind, begleitet die gesamte Schwangerschaft.
„Ehrlich gesagt, das war scheiße“, sagt Kathleen Roll. Heute kann sie darüber lachen. „Damals haben wir aber nur gehofft, dass alles gut geht.“ Per Kaiserschnitt werden die Zwillinge schließlich am 12. Juni geboren. 32 Schwangerschaftswochen sind da geschafft. Es folgen noch vier Wochen auf der Intensivstation und auf der Kinderstation, ehe sie nach Hause mitkönnen.
Thomas Erler erzählt von einer der üblichen Routineuntersuchungen neulich, der U 4. „Da hat mir der Arzt gesagt: ‚Ich würde die Kinder ja gern hierbehalten, aber sie sind kerngesund.‘“ Die Anfänger-Eltern, wie sie sich selbst nennen, können ihr Glück kaum fassen. Sie wissen aber auch, dass sie das Leben von Oskar und Felix einem Arzt zu verdanken haben. „Er ist unser Gott“, sagt Kathleen Roll. „Es sind auch seine Kinder.“ Oberarzt Cahit Birdir hatte sich in London mit der komplizierten Operationsmethode vertraut gemacht. Sein Wissen brachte er mit nach Dresden.
Kontakt zum Oberarzt bleibt
Die junge Familie und der Oberarzt halten immer noch Kontakt. Wenn Kathleen Roll und Thomas Erler im Klinikum zu Nachuntersuchungen sind, trifft man sich. „Wir hatten dort ein super Team, was sich um uns gekümmert hat“, so Thomas Erler.
Unterdessen ist zu Hause Alltag eingekehrt – so weit das mit Zwillingen möglich ist. „Das Schöne ist, dass sich die beiden abwechseln. Wenn der eine wach ist, schläft der andere“, sagt Thomas Erler mit einem ironischen Lächeln. Immerhin: Seit zehn Tagen wird wenigstens nachts durchgeschlafen. Der Unternehmer, dem in Freital eine Metallbearbeitungsfirma mit sieben Mitarbeitern gehört, musste lernen, die Prioritäten zu verschieben. Dass er als Chef die kürzeste Zeit des Tages in der Firma ist, daran mussten er und seine Mitarbeiter sich erst gewöhnen. „Aber das Team hat super mitgezogen.“ Mittlerweile hat sich eine Kernarbeitszeit zwischen 9 und 15 herauskristallisiert. Der Morgen und der Abend sind flexibel. „Die Zwillinge bestimmen über unseren Terminkalender“, sagt er.
Mit großen Augen entdecken Oskar und Felix die Welt. Alles will angefasst, in den Mund gesteckt werden. Seit der Geburt haben sich die Kinder prächtig entwickelt und bringen mittlerweile mehr als sieben Kilogramm auf die Waage. Nur das halbe Kilo Unterschied erinnert noch an ihren nicht ganz so leichten Start ins Leben.