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Familie wird getrennt abgeschoben

Jahrelang hat eine armenische Familie in Dresden ihre wahre Herkunft verschwiegen. Nun muss sie voneinander getrennt ausreisen. Dagegen gibt es Protest.

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© Roland Halkasch

Nora Domschke, Julia Vollmer und Alexander Schneider

Dresden.Es ist schon stockdunkel draußen am Montagabend, ein kalter Herbstwind bläst durch die Fichtenstraße im Hechtviertel, als es bei Familie H. klingelt. Die Polizei steht draußen, in der Hand haben die Beamten ein Schreiben. Die Familie soll nach elf Jahren in Deutschland nach Armenien abgeschoben werden. Die drei Kinder, heute zehn, acht und sechs Jahre alt, sind in Deutschland geboren. Die Familie gilt als gut integriert. Nachbarn beschreiben sie als freundlich, hilfsbereit und aufgeschlossen. Die Kinder besuchen eine Grundschule. Als die Nachbarn von dem Polizeieinsatz erfahren, organisieren sie einen Protest, unterstützt werden sie von Hope, einer Anti-Pegida-Gruppe, und der Linksjugend.

Protest gegen die Abschiebung

Am Montagabend kam es im Hechtviertel zu einer Protestdemonstration gegen die vorangegangene Abschiebung einer Familie.
Am Montagabend kam es im Hechtviertel zu einer Protestdemonstration gegen die vorangegangene Abschiebung einer Familie.

Eine Nachbarin kommt gerade von der Arbeit, als Demo und Polizeieinsatz in vollem Gange sind. Die Fichtenstraße ist gesperrt, viel Polizei ist im Einsatz und etwa 70 Demonstranten protestieren gegen die Abschiebung. Die Stimmung ist gedrückt, aber ruhig. Das nimmt auch Christopher Colditz, Sprecher der Linksjugend, wahr. „Als ich gegen 21.15 Uhr ankam, war schon ein Pulk Menschen da, die Polizei hatte inzwischen Verstärkung angefordert.“

Tochter gilt als vermisst

Noch am Abend übernimmt eine Anwältin des Ausländerrates das Mandat für die armenische Familie. Sie stellt einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht, um eine Duldung zu erwirken und die Abschiebung zu stoppen. Am Dienstag, 12 Uhr, fällt die Entscheidung: Der Eilantrag ist abgelehnt, der Vater und die zwei Söhne werden vom Düsseldorfer Flughafen – dorthin wurden sie mittlerweile gebracht – per Sammelabschiebung nach Armenien ausgeflogen.

„Die Eilanträge wurden als unzulässig eingestuft, da sie aus von den Antragstellern zu vertretenden Gründen so spät gestellt wurden, dass dem Gericht nicht mehr ausreichend Zeit für eine Entscheidung blieb“, so Gerichtssprecher Robert Bendner. Die Antragsteller seien seit langer Zeit ausreisepflichtig, ohne dieser Verpflichtung nachgekommen zu sein. In einer solchen Situation sei ein in „letzter Minute“ gestellter Eilantrag „mangels Rechtsschutzinteresse“ unzulässig, da die Betroffenen bereits zu einem früheren Zeitpunkt Anträge bei Gericht hätten stellen können.

Die Mutter liegt derzeit im Krankenhaus; sie musste während des Polizeieinsatzes vom Krankenwagen abgeholt werden. Die zehnjährige Tochter war am Montagabend, als die Polizei vor der Tür stand, nicht zu Hause. Die Beamten gaben eine Vermisstenanzeige auf. „Die Abschiebung geschah urplötzlich – nach einem bereits gescheiterten Versuch hatte sich der Gesundheitszustand der Mutter drastisch verschlechtert“, so Mike Gärtner vom sächsischen Flüchtlingsrat. Der Polizeibesuch am Montagabend war nicht der erste. Bereits am 4. August brachten Beamte die Familie zum Flughafen nach Frankfurt am Main. Mit dabei waren ein Arzt und Sicherheitspersonal, die ebenfalls mit in das Flugzeug stiegen. Weil sich die Mutter vehement wehrte, habe der Pilot den Flug nach Armenien abgebrochen, teilt Polizeisprecher Thomas Geithner auf SZ-Anfrage mit. Nach dieser gescheiterten Abschiebung soll die Mutter versucht haben, sich mittels Tabletten das Leben zu nehmen. Danach stellten Mediziner eine depressive Störung und ihre Reiseunfähigkeit fest. Daraufhin war die Mutter laut Flüchtlingsrat dazu aufgefordert worden, am 2. November zu einer Untersuchung beim Amtsarzt zu kommen. „Familie und Unterstützer gingen davon aus, dass eine Abschiebung vorerst nicht zu befürchten sei.“

Doch nun kam alles anders. Holm Felber von der Landesdirektion Sachsen erklärt den Abschiebeversuch an diesem Montagabend mit fehlenden ärztlichen Gutachten. Wären diese vorgelegt worden, hätte das eine Aussetzung der Abschiebung gerechtfertigt, so der Sprecher. Zudem sei ein erneuter Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung vom August 2017 durch die Ausländerbehörde bei der Stadt Dresden abgelehnt worden. „Die Stadt erteilte auch keine Duldung mehr“, so Felber. Und es werden noch mehr Details bekannt. Demnach sei die Familie bereits im Oktober 2006 nach Deutschland gekommen, im Dezember kam die Tochter, 2009 und 2011 die beiden Söhne zur Welt. Im Januar 2008 hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Asylanträge für die Eltern und das Mädchen abgelehnt, gleiches gilt für die Anträge der Söhne, die in den Jahren 2009 und 2015 gestellt wurden. „Die Eltern kamen der Ausreisepflicht nicht nach“, teilt Felber weiter mit. Also seien sogenannte aufenthaltsbeendende Maßnahmen eingeleitet worden. Was sich dahinter verbirgt, erklärt er nicht. Entscheidend für das Schicksal der Familie ist damals vor allem folgender Fakt: Die Eltern gaben sich als irakische Staatsangehörige aus. Aufgrund der Situation im vermeintlichen Herkunftsland wurde die Abschiebung nicht vollzogen.

„Massive Täuschung der Behörden“

Erst im Februar 2014 – also mehr als sieben Jahre später – stellt sich im Rahmen einer Expertenanhörung heraus, „dass die Familie die Behörden über ihre Identität massiv getäuscht hatte“, so Felber. Demnach haben sowohl die Eltern als auch die in Deutschland geborenen Kinder die armenische Staatsangehörigkeit. Daher sei die Abschiebung veranlasst worden. Dem folgten mehrere Anträge auf die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung; vor gut einem Jahr lehnte das Oberverwaltungsgericht Bautzen die Anträge rechtskräftig ab. Im Herbst 2016 sei die Reisefähigkeit der Mutter mit einem amtsärztlichen Gutachten festgestellt worden.

Warum die Abschiebung dann erst im August 2017 stattfand, kann Felber nicht konkret beantworten. Er geht davon aus, dass in dieser Zeit die Papiere der Familie bei den armenischen Behörden beantragt wurden. Fakt ist: Weil der erste Abschiebeversuch aufgrund des massiven Widerstands im Flugzeug scheiterte, sei nun die Trennung der Familie in Betracht gezogen worden, so Felber. Weil sich die Eltern weigerten, den Aufenthaltsort ihrer Tochter preiszugeben, habe die Familie die Trennung letztlich selbst verursacht. Zum aktuellen Gesundheitszustand äußerte sich die Landesdirektion nicht. Sobald die Tochter wieder auftaucht, werde die Abschiebung für sie und ihre Mutter erneut geprüft. Sollte sich die Mutter aus gesundheitlichen Gründen nicht um ihre Tochter kümmern können, übernimmt das Jugendamt die Betreuung und ist in diesem Fall auch dafür zuständig, dass das Mädchen die Schule besucht.