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"Wenn er schreit, kann der Hund ihn runterbringen"

Finn leidet unter Autismus und unter einem Gendefekt. Ein Autismus-Begleithund soll dem Sechsjährigen helfen. Dafür brauchen seine Eltern 28.000 Euro.

Von Franziska Klemenz
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©  Foto: Sven Ellger

Dresden. Vorhang auf, Licht ins Zimmer. Finn robbt vom Bett, schreit, reißt an dem Vorhangschal, der von der Altbau-Decke bis zum Boden reicht. Finn mag Reize, seine neue Vorliebe sind Licht und Schatten - mit der Handytaschenlampe auf Spielzeugtiere leuchten, deren Schatten an die Wand fallen. Genau das will er jetzt machen, dabei stört das Licht hinter dem Vorhang. Dass er zu klein ist, um das meterlange Stoffstück zu bewegen, ist ihm egal. Finn reißt. Denn Finn will nicht, dass der Vorhang auf ist. Und wenn Finn nicht will, rastet er aus. 

"Das eben war eine Mini-Situation", sagt Ivonne Mattiza. Finns Mutter ist andere Esklationsstufen gewöhnt. Ihr sechsjähriger Sohn leidet neben einem Gendefekt auch unter Autismus. Seine Diagnose ist noch nicht abgeschlossen, man geht von einer frühkindlichen Form der Entwicklungsstörung aus. 

Kein Kind wollte sich mehr neben Finn setzen

Finn kennt kein angemessenes Sozialverhalten. Nicht gegenüber seinen Eltern und nicht gegenüber dem Rest der Welt. Seine Sprache ist auf dem Level eines Anderthalbjährigen stehen geblieben, Emotionen und Wünsche anderer versteht er kaum, Tage müssen sehr geregelt ablaufen, damit sie ihn nicht aus der Bahn werfen. 

"Es gab eine Zeit, da konnten wir ihn kaum noch händeln", sagt Ivonne Mattiza. "Die Kinder in der Kita haben ihn gemieden, weil er ihnen an den Haaren gezogen hat, niemand wollte sich mehr neben ihn setzen." Seit einem Jahr bekommt Finn Medikamente gegen die Aggressionen. Das hat die Situation etwas entschärft, das Grundproblem bleibt: Seinen Willen versucht Finn, mit Aggressionen durchzusetzen.

Ivonne Mattiza, ihr Lebensgefährte Lars und Finns Vater David, alle mit grauen T-Shirts und bunten Tattoos, sitzen verteilt auf dem Laminatboden und auf der Sofakante des offenen Wohnzimmers. Finn tapst über den Boden zum Kühlschrank, holt einen Schokoriegel raus. Auf seinem T-Shirt hebt ein lächelnder Hund mit Feuerwehr-Helm die Pfote, als wollte er grüßen. 

Das Paar hat die Wohnung nahe Pfunds Molkerei in der Dresdner Neustadt vor wenigen Monaten bezogen - "ein Glücksgriff" mit mehr Platz als zuvor. Das gemeinsame Wohnen mit Finn kennt Lars seit einem Jahr. „Ich hatte vorher nie Kontakt zu behinderten Menschen", sagt der 40-Jährige mit grauem Bart und weinroter Cappi. "Als ich beim vierten oder fünften Mal bei Ivonne war, hat Finn sich ganz nah neben mich gesetzt, einige Zeit später hat er den Kopf an meine Schulter gelegt.“ Bei Finn keine Selbstverständlichkeit.

Im Vorbeigehen hat eine Frau "abtreiben" geraunt

Eigentlich ist gerade "Papa-Woche". Für Papa David bedeutet das viel Organisation. „Du bist immer vorsichtig und achtest darauf, wie du deinen Tag durchplanst“, sagt der 41-Jährige. Direktheit, Humor, Fürsorge und vielleicht auch etwas Traurigkeit schwingen bei seinen Worten mit. "Finn braucht seine ganz geregelten Abläufe. Sonst eskaliert es. Man muss alle Wege durchplanen: Gehe ich da entlang, wo die vielen Tauben sitzen und riskiere, dass er eskaliert?"

Auf Tiere reagiere Finn besonders intensiv. Wenn er sie nicht lange genug ansehen darf, werde er wütend. Zu den häufigsten Freizeit-Beschäftigungen in Papa-Wochen gehören Zoo-Besuche.

Weil Finn sich oft weigert, bestimmte Wege zu gehen, transportieren seine Eltern ihn häufig in einem Rollstuhl. Wenn seine Mutter ihn weniger Eindrücken aussetzen, weniger Reaktionen provozieren will, fährt sie ihn mit dem Fahrrad nach Hause. 

„Gefühlt hört man Finn vom Goldenen Reiter bis zum Albertplatz, er hat eine sehr unangenehme, hohe Frequenz", sagt sie. "Man kriegt ihn dann nur damit, dass man seinem Willen nachkommt. Es ist sehr unangenehm, wie die Leute dann gucken und denken, man hätte sein Kind nicht im Griff. Die Leute urteilen sehr schnell.“ Einmal habe eine Frau im Vorbeigehen "abtreiben" geraunzt.

Ein Autismus-Hund soll Finn im Alltag helfen, seine Emotionen zu bewältigen. Er wäre außerdem der soziale Kontakt, der durch Freunde fehlt.
Ein Autismus-Hund soll Finn im Alltag helfen, seine Emotionen zu bewältigen. Er wäre außerdem der soziale Kontakt, der durch Freunde fehlt. © privat

David passiert es in Bussen und Bahnen immer wieder, dass Menschen seinen Sohn im Rollstuhl ignorieren, keinen Platz machen. "Finn ist das zum Glück völlig egal. Er hat kein Verständnis dafür, ob jemand rücksichtslos ist oder nicht."

Ein Autismus-Begleithund würde Finn im Alltag helfen, davon sind seine Eltern überzeugt. 28.000 Euro fallen dafür an. Der Hund, meist ein Labrador oder ein Golden-Retriever, erhält zunächst eine einjährige Grundausbildung. Danach lernt er Finn kennen und wird im Kontakt mit dem Jungen für weitere sechs bis zwölf Monate ausgebildet. Der Hund wird dann darauf geschult sein, auf Finn einzugehen, ihn zu beruhigen. "Wenn er schreit, kann der Hund ihn runterbringen", sagt Ivonne Mattiza. Das mache Finn immer wieder, weil er nicht sprechen kann - um Frust abzubauen. "Wenn er uns kratzt und schlägt, kommen wir nicht mehr an ihn ran. Der Hund kann sich dann zum Beispiel auf seine Beine legen und ihm Reize geben." 

Rund 20.000 Euro sind bislang zusammengekommen, Mattiza sammelt in einer breit angelegten Spendenaktion über Facebook und über den Verein Rehahunde Deutschland e.V., der den Hund für Finn auch ausbilden würde. 

Finn fischt den nächsten Schokoriegel aus dem Kühlschrank, dann geht er zu seiner Mutter und nimmt sie in den Arm. Ivonne Mattiza muss lächeln. "Grundsätzlich ist Finn kein besonders kuschelbedürftiges Kind", sagt Mattiza. Sei er noch nie gewesen.

Dem früheren Yorkshire-Terrier von Ivonne fiel es zunehmend schwer, Finns Verhalten zu ertragen. Er zog schließlich zu einem Rentner-Paar um, wo er Ruhe hat.
Dem früheren Yorkshire-Terrier von Ivonne fiel es zunehmend schwer, Finns Verhalten zu ertragen. Er zog schließlich zu einem Rentner-Paar um, wo er Ruhe hat. © privat

Finn war ein Frühkind. Nach der 31. Schwangerschaftswoche holten Ärzte ihn per Kaiserschnitt zur Welt. Er wog rund 1,5 Kilogramm. „Wir hatten während der Schwangerschaft gesagt, dass wir nur die normalen Untersuchungen machen, weil Finn ein Wunschkind war. Eine Abtreibung wäre für uns nie in Frage gekommen.“

Dass etwas nicht mit ihm stimmt, er unter einer Muskelschwäche leidet, war nach der Geburt klar, Ärzte untersuchten ihn wochenlang. „Ich habe damals als Heilerziehungspflegerin gearbeitet, was insofern schwierig war, als dass ich wusste, auf was die Ärzte ihn jeweils testen“, sagt Mattiza, die inzwischen, nach einem berufsbegleitenden Studium, in einer Dresdner Behindertenwerkstätte beim Sozialdienst arbeitet.

Finn und seine Mutter Ivonne: "Man freut sich über jeden Schritt in die Selbstständigkeit."
Finn und seine Mutter Ivonne: "Man freut sich über jeden Schritt in die Selbstständigkeit." ©  Foto: Sven Ellger

Nicht jeder Hund kann Finn begleiten

Dass ein Hund nicht pauschal beruhigend auf ihren Sohn wirkt, musste Ivonne Mattiza schmerzlich feststellen. Als Finn auf die Welt kam, lebte ihr damals zehn Jahre alter Yorkshire-Terrier noch bei ihr. Je älter er wurde, desto mehr Stress übte Finn auf den Hund aus, man musste die beiden ständig separieren, das wiederum stresste Finn noch mehr. Der Hund lebt inzwischen bei einem Rentnerpaar. Während Papa-Wochen besucht Ivonne Mattiza ihn manchmal ohne Finn. 

Dreieinhalb Jahre nach Finns Geburt stellte sich heraus, dass Finn unter dem Coffin-Siris-Syndrom leidet - eine genetische Krankheit, die Entwicklungsstörungen des Körpers und des Gehirns verursacht. Eins von einer Million Kindern leidet darunter, Jungen besonders selten.

Die autistischen Verhaltensweisen haben sich erst mit der Zeit herauskristallisiert. Wie die meisten Autisten schrie er als Baby kaum, mochte es nicht, gestreichelt zu werden.

Die Situation zu akzeptieren, fiel beiden Eltern schwer. "Es gibt immer mal wieder Phasen, wo man zu kämpfen hat", sagt Mattiza. „Die ersten Jahre war es einfacher, weil Finn kleiner war. Da kann man noch nicht so viel vergleichen. Im Kinderwagen sieht er ja erstmal wie ein normales Kind aus. Inzwischen gibt es Momente, wo ich sehe, wie andere Kinder von ihren Eltern die Welt erklärt bekommen und man selber das nicht machen kann.“ Mattizas Stimme bricht. Finn steht daneben. Ungerührt. 

Irgendwann wolle sie nochmal Mutter werden, sagt Mattiza. "Nochmal ein Kind aufwachsen sehen, ohne dass ein Defizit im Raum steht."

Zehn Minuten Spielplatz, eine Woche Kopfkissen-Heulen

Für David waren Orte wie Spielplätze immer wieder schwer zu ertragen. Finn weiß nicht, was er mit Schaukeln oder anderen Geräten anfangen soll. "Zehn Minuten Spielplatz und man hat für eine Woche ins Kopfkissen geheult." Inzwischen mache ihm eher die Zukunft Gedanken. Wie Finn für sich sorgt, wenn seine Eltern mal nicht mehr so fit oder mal gar nicht mehr sind. 

Man freue sich über "jeden Schritt in die Selbstständigkeit", sagt Ivonne Mattiza. Über die ersten Schritte, als er zum ersten Mal die Schuhe selber auszog, zum ersten Mal Lautete wie Mama oder Papa von sich gab. Bis er anderthalb war, hatte er eine normale Sprachentwicklung. Ein Wort ist bis heute geblieben: "Wau Wau".

Spenden für Finns Autismus-Begleithund nehmen Ivonne Mattiza über die Spendenplattform Betterplace oder der Verein Rehahunde Deutschland e.V. per Überweisung an ein für Finn eingerichtetes Konto entgegen: Rehahunde Deutschland e.V,. IBAN: DE10 1309 0000 0202 5341 18