"Und jetzt zeigst du uns, wie Sterben geht"

Wie lange hat er wohl noch? Diese Frage kam Julia Kalenberg mit als Erstes in den Kopf, als die Ärztin der Familie eröffnete, dass der Vater an Lungenkrebs erkrankt ist. 86 Jahre alt war er da Anfang 2020, ein Leben lang Nichtraucher. Dass ihnen nur eine begrenzte Zeit zusammen bleiben würde, war in dem Moment allen bewusst.
Therapien, so machte es der Vater schnell deutlich, wolle er in keinem Fall mehr machen. Julia Kalenberg entschied sich damals, diesen letzten Weg mit ihrem Vater gemeinsam zu gestalten.
Geholfen hat ihr der Austausch mit anderen, die so wie sie jemanden verloren haben oder selbst todkrank waren. Aus diesen sehr persönlichen Erlebnissen sind wertvolle Gedanken und Anregungen entstanden. Julia Kalenberg hat sie für ihr Buch „Und jetzt zeigst du uns, wie Sterben geht“ zusammengetragen.
„Ich wünsche mir, dass sie auch anderen helfen, Abschiede besser annehmen, verarbeiten und sogar mitgestalten zu können“, sagt die 59-Jährige im Gespräch mit Sächsische.de.
Frau Kalenberg, wie sind Sie auf den ungewöhnlichen Buchtitel gekommen?
Als mein Vater gespürt hat, dass es für ihn zu Ende geht, hat er viele Dinge strukturiert, mutig, ruhig und offen in die Hand genommen. Da dachte ich: Das ist unglaublich. Du hast uns beigebracht, wie man einen Stock schnitzt, um eine Wurst überm Feuer zu braten, du hast uns gezeigt, wie man einen Drachen bastelt, wie man Fahrrad fährt. Und jetzt zeigst du uns, wie Sterben geht. Das war dann der Titel.
Sterben heißt leben lernen – so lautet der Untertitel. Wie meinen Sie das?
Die Endlichkeit ist da, wir werden alle sterben. Wenn ich mir aber erlaube, diese Endlichkeit als Einladung zu begreifen, alles, was mir wichtig ist, im Hier und Jetzt zu leben, bringt das Leichtigkeit mit sich. Man muss nicht warten, bis man pensioniert ist, um abends einen schönen Spaziergang in der Sonne zu machen. Es gibt so viele Winzigkeiten, für die man sich täglich Zeit nehmen kann. Andererseits macht die Endlichkeit vielen Menschen Angst. Wenn sie sich trauen, hinzuschauen, verliert sie ein wenig von ihrem Schrecken. Auch das bringt Leichtigkeit.
Sie schreiben, dass es Ihnen anfangs selbst schwergefallen ist, mit Ihren Eltern über das Thema Sterben zu reden. Was hat es Ihnen einfacher gemacht?
Das waren zwei Dinge. Ich habe mit den Töchtern einer verstorbenen Freundin gesprochen und sie gefragt, was für sie während der Zeit der Sterbebegleitung hilfreich war. Sie erzählten mir, dass sie gemeinsam in der Familie das Buch „Über das Sterben“ gelesen haben. Es stammt von dem bekannten Palliativmediziner Gian Domenico Borasio. Ich fand das großartig. Ich habe das Buch gekauft, als mein Vater noch nicht krank war, und meiner Mutter gezeigt. Darüber zu reden, hat uns geholfen, uns dem Thema zu nähern.
Und die zweite Sache?
Die Klarheit meines Vaters, als er mit der Diagnose Lungenkrebs im Spital lag. Er war 86 Jahre alt und hatte für sich beschlossen, keine Therapie mehr machen zu wollen. Ich werde nie vergessen, wie er bei einem Besuch von mir gesagt hat: Weißt du, ich kann gehen. Natürlich braucht es zwei dazu. Hätte mein Vater sich versteckt und das Gefühl gehabt, er müsste sein Töchterlein schützen, dann hätte ich sicher auch nicht den Mut gehabt, zu sagen: In Ordnung, Papa, du brauchst keine Chemo mehr.
Viele scheuen sich, das Thema in der Familie anzusprechen. Dabei kann man doch dabei nichts falsch machen, oder?
Nein. Wichtig ist, bei sich selbst zu bleiben, zur eigenen Verletzlichkeit zu stehen, auch die eigene Unsicherheit einzuräumen und völlig unvoreingenommen ins Gespräch reinzugehen. Wenn man sich vorstellt, es könnte schwierig werden, dann wird es das vermutlich auch.
Wie könnte man so ein Gespräch mit den Eltern beginnen?
Mama, ich bin unsicher, darf ich es ansprechen? Mama, mich interessiert, wie es dir mit dem Thema geht? Oder: Was würdest du dir für ein Gespräch mit mir darüber wünschen? Vorsichtig vorfühlen und eigene Bereitschaft signalisieren. Andererseits muss man aber auch damit leben können, wenn die hochbetagte Mutter sagt: Willst du mich etwa schon unter der Erde haben?
Im Buch sind mehr als 20 Geschichten abgebildet, wie Menschen aus meinem Umfeld über Tod und Sterben gesprochen haben, mit Familie, Freunden, Kollegen. Vielleicht findet der eine oder andere Leser hier eine Idee – ach, so könnte ich mir das auch vorstellen, oder so eben gar nicht. Jeder kann sich seinen eigenen Weg suchen.

War das Ihr Anliegen mit dem Buch?
In erster Linie möchte ich Menschen ermutigen, hinzuschauen statt wegzuschauen, wenn es denn so weit ist. Sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen, um damit Leichtigkeit ins Leben zu bringen – so paradox sich das im ersten Moment anhört. Viele Menschen glauben, sich mit dem Sterben auseinanderzusetzen, ist total schwer. Das ist es aber nur, weil sie es verdrängen und von sich wegschieben.
Wenn man hinschaut, entdeckt man vielleicht: Ich muss das ja nicht nur alles erleiden. Wenn wir offen kommunizieren, haben wir im besten Fall auch Gestaltungsmöglichkeiten. Was brauchst du, Papa, dass du gut gehen kannst? Und was brauchen wir als Angehörige, dass wir dich dabei gut begleiten können? Das zu erkennen, war für mich einfach unglaublich befriedigend.
Wie sind Sie an diesen Punkt gekommen?
Geholfen haben mir kleine Erfahrungsmosaiksteine – aus Gesprächen mit anderen Menschen, aber auch aus dem Erleben ihrer Sterbebegleitung. Das hat mir den Mut gegeben, bei meinem Vater hinzuschauen und zu sagen: Ich möchte dich begleiten. Im Nachhinein fühlt sich das einfach stimmig an. Ich hätte ihm auch auf die Schulter klopfen können und sagen: Hey, Papa, wenn du aus dem Spital rauskommst, dann gehen wir schön essen. Das wäre aber eine verpasste Chance gewesen. Ich wollte nie später sagen müssen: Ach, hätte ich doch.
Sie berichten von einigen Menschen, die eine Bucket-List erstellt haben mit Dingen, die sie vor ihrem Tod noch tun wollen. Finden Sie die Idee gut?
Es müssen ja nicht die Kreuzfahrt oder der Luxusurlaub sein, sondern kleine Dinge, die einem wichtig sind. Das im Blick zu behalten, finde ich ganz wichtig. Es ermöglicht einem, auf dem Sterbebett zu sagen: Ich habe all die Dinge getan, die mir wichtig sind. Es gibt ein Buch einer australischen Pflegefachkraft: „Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“.
Darunter waren: Ich habe mich nicht genügend um meine Freunde gekümmert, und ich habe nicht genügend Beziehungen gepflegt. Wissen Sie, ich habe auf meinem Schreibtisch einen Stein liegen, den ich von einer Freundin geschenkt bekommen habe, die inzwischen an Krebs gestorben ist. Darauf steht: „Im Grunde genommen sind es immer die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben. Wilhelm von Humboldt.“ Das berührt mich noch immer unglaublich.