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Warum sich Jugendliche auf gefährliche Mutproben einlassen

Jugendliche sterben, weil sie zum Beispiel TikTok-Challenges nachmachen. Doch Eltern können Kinder davor schützen.

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Mädel, halt dich fest! Um als cool zu gelten oder in bestimmten Gruppen dazuzugehören, lassen sich Kinder und Jugendliche immer wieder auf riskante Abenteuer ein.
Mädel, halt dich fest! Um als cool zu gelten oder in bestimmten Gruppen dazuzugehören, lassen sich Kinder und Jugendliche immer wieder auf riskante Abenteuer ein. © 123rf

Den Atem vor laufender Kamera so lange anzuhalten, bis man in Ohnmacht fällt oder sich mit einem Gürtel selbst zu strangulieren – etliche Kinder und Jugendliche sind beim Nachahmen solcher fragwürdiger TikTok-Trends bereits gestorben. Diplom-Psychologe Michael Thiel erklärt, was dahinter steckt und wie Eltern ihre Kinder schützen können.

Herr Thiel, was verleitet vor allem Heranwachsende zu Mutproben?

Gerade bei pubertierenden Jugendlichen geht es darum, das schwankende Selbstwertgefühl zu erhöhen und dazuzugehören: „Ich möchte Teil der Community sein. Und wenn eine Mutprobe dazugehört, dann mache ich sie.“ Gerade Jugendliche haben Sehnsüchte nach Aufmerksamkeit, Belohnung, Lob. Und auch danach, etwas Besonderes zu sein. Diese Mutproben sind Unterwerfungstests: Man unterwirft sich dem Gruppendruck. Der wirklich Mutige würde sich verweigern und „Nein!“ sagen.

Wie sind in diesem Zusammenhang Challenges einzuordnen?

Sie sind eine neue Form von Mutproben und finden im Internet statt. Dazu gehört etwa, in einer bestimmten Zeitspanne so und so viel abgenommen zu haben oder „Roofing“, ungesichertes Klettern und Posen auf Hochhäusern und Baustellen.

Worauf zielen die Challenges ab?

Es geht darum, mit dem Handy aufgenommen, dann im Internet verbreitet zu werden und dadurch Aufmerksamkeit und Klicks zu bekommen. Dieser unmittelbare Vergleich in Sekundenschnelle war dank unserer Technik noch nie so einfach wie jetzt, wo man durch Klick- und Followerzahlen sofort sehen kann: „Habe ich Erfolg gehabt mit der Mutprobe oder nicht?“

Michael Thiel ist Kinder- und Familienpsychologie, Autor und Fernsehmoderator mit eigener Praxis in Hamburg.
Michael Thiel ist Kinder- und Familienpsychologie, Autor und Fernsehmoderator mit eigener Praxis in Hamburg. © dpa

Sind Mutproben durch die sozialen Medien gefährlicher geworden?

Ja, das Ganze hat eine neue Qualität. Die Mutproben sind noch weniger kontrollierbar durch Social Media. Wenn man früher eine Mutprobe gemacht hat, dann hatte man mit realen Menschen zu tun. Die Gruppe hat dann wahrscheinlich auch geholfen, wenn etwas schief gegangen ist.

Wie ist das heute?

Die Challenges heutzutage finden eher separiert statt. Der Jugendliche sitzt allein in seinem Zimmer und fängt an, angeregt durchs Internet, Ideen zu entwickeln, wie er sich bei Mutproben am besten darstellen kann. Also manipuliert er vielleicht an sich herum oder gefährdet durch absurde Abnehm-Challenges seine Gesundheit.

Können Eltern ihre Kinder schützen?

Ich würde mir wünschen, dass Eltern schon weit vor der Pubertät ihre Kinder dazu anregen, sich mit ihren Fähigkeiten und Talenten zu beschäftigen. Wenn jemand beispielsweise richtig gut im Sport ist und im Verein gefördert wird, kann er dort in relativ ungefährlichen Rahmen seine Wettkämpfe, seine Challenges und damit seine Bestätigung finden. Kinder können dort die Quellen des eigenen Selbstwertgefühls finden und zeigen, wie gut sie sind.

Wichtig ist, schon vor der Pubertät kontinuierlich den Kontakt zum Kind zu halten und eine sichere Bindung aufzubauen. Fühlt sich ein Kind generell geachtet und geliebt, ist das Bedürfnis nach außerfamiliärer Bestätigung oftmals geringer. Auch Gespräche in der Familie, zum Beispiel beim gemeinsamen Essen, über Gefährdungen und eigene Erfahrungen, aber auch über Erfolge und Fähigkeiten des Kindes, stabilisieren dessen Selbstwertgefühl und vermitteln einen realistischen Blick auf mögliche Gefahren.

Ist es Pubertierenden nicht wichtiger, was die Freunde sagen?

Ja, trotzdem wird der Jugendliche in der Regel solche gefährlichen Challenges gar nicht erst machen, weil der Mut groß genug ist, um Nein zu sagen.

Wie reagieren Eltern am besten, wenn es doch zu einer Mutprobe kam?

Nicht nur ausflippen und damit die eigene Besorgnis zeigen, sondern ruhig die elterliche Sicht möglichst realistisch und ehrlich erklären. In der Regel sind das Challenges im Netz, die schnell wieder verschwinden. Eltern sollten dem Kind aber auch deutlich machen: „Hier hast du eine Grenze überschritten, ich mache mir Sorgen um dich und deine Gesundheit. Wenn du irgendwas machen willst, was dir komisch vorkommt, dann komm zu mir und wir bereden das.“

Jugendliche wollen eigentlich selbst entscheiden. Haben sie aber Vertrauen und Kontakt zu den Eltern, ist die Chance höher, dass sie sich Rat holen.

Das Gespräch führte Sabrina Szameitat (dpa)