Einmal Luftholen wäre gut gewesen

Es geschieht in Episode sechs der zweiten Staffel: Man trägt Maske. Hält Abstand. Verweigert den Händedruck. Covid 19 infiziert die Handlung der US-amerikanischen Serie „For Life“ und nimmt ihr den Sauerstoff. An künstlicher Beatmung schrammt die Produktion der Fernsehanstalt ABC dann gerade noch vorbei, trotzdem stellt sich die Frage, wohin dieser bis dahin sehr ordentliche Mehrteiler inhaltlich gesteuert wäre. Ohne Virus.
Denn beim Zusehen kommen eigenartige Gefühle hoch. Muss man das, was das reale Leben seit einem Jahr bestimmt, auch bei der abendlichen Tiefenentspannung vor dem Bildschirm gezeigt bekommen? Ist die fixe filmische Reaktion auf neue Gegebenheiten, gipfelnd in offensichtlichen äußerlichen Merkmalen, wie es Masken eben sind, wirklich Qualitätsmerkmal oder einfach nur aufgesetzt? Die Tendenz zu Letzterem lässt sich im Falle „For Life“ leider nicht leugnen, was ebenso an einer zweiten dem Reflex geschuldeten Entscheidung liegt. Wir kommen darauf zurück.
Eine Figur so komplex wie stur
Was bislang geschah: Aaron Wallace (Nicholas Pinnock) verbringt neuneinhalb Jahre seines Lebens im Gefängnis Belleville. Verurteilt wurde der Ehemann und Vater wegen Drogendelikten extremen Ausmaßes. Der ehemalige Clubbesitzer wusste jedoch überhaupt nicht, was engste Mitarbeiter und zum Teil Freunde hinter seinem Rücken an Deals zu laufen hatten. Lebenslänglich! Aaron Wallace kämpft darum, seine Unschuld zu beweisen. Hinter Gittern studiert er in Online-Seminaren Jura, schafft das Examen, verteidigt zunächst einige Mithäftlinge, am Ende aber vor allem sich selbst.
Staffel eins von „For Life“ stellte mit dem Briten Nicholas Pinnock einen extrem präsenten, sich in Auge und Mark wühlenden Hauptdarsteller vor, der vom Stand weg alle nötigen Sympathiepunkte sammelt. Seine Figur ist so komplex wie stur, kraftvoll wie zäh. Und schwarz. Mehrere Drehbuchautoren sowie Regisseure betreuten die 13 Folgen und formten aus dem Stoff ein brisantes und emotionales Knast-, Gerichts-, und Lebensdrama, Dustin O‘ Halloran kümmerte sich um die Musik – beste Voraussetzungen also.
Mit sicherer Hand entstand hier zugleich eine gesellschaftspolitisch relevante Serie, die alle nur vorstellbaren Abgründe im Blick hat: Gewalt, Treue, Intrige, Ohnmacht, Wahrheitsfindung. Gedeckt und gegen vorschnelle Vorwürfe geschützt, man würde sich eher auf märchenhaftem Terrain bewegen, wurden die Produzenten, darunter Rapper Curtis „50 Cent“ Jackson, von der Biografie eines echten Menschen angeregt. Isaac Wright Jr. heißt der Mann, der 1991 ohne Schuld ins Gefängnis kam, sich dort ausbilden ließ und de jure, fünf Jahre später, befreien konnte. „For Life“ wurde im Kern von seiner Person inspiriert und über fiktive Figuren und Handlungsteile in Gang gebracht. Im Frühjahr 2020 war die erste Staffel in den USA zu sehen, konzipiert wurde das Material von vornherein für Fortsetzungen. Dann kam Covid.
Wallace trägt schwer am Trauma
Und es geschahen die nächsten Attacken weißer Polizisten auf schwarze Bürger wie jener explizit als Tötungsdelikt behandelte Vorfall mit George Floyd im Mai 2020 in Minnesota, der in „Black Lives Matter“ als globale Bewegung seinen Kanal suchte. Mit (zu) schneller Feder haben die „For Life“-Autoren auch diese Tagesaktualität noch in die Serie gebracht, sich damit allerdings verhoben, was speziell in Nebenschauplätzen der Story zu sehen ist.
Aaron Wallace trägt schwer am Trauma, das ihn in der Zelle begleitet hat und nun in Freiheit nicht enden mag. Er ist nicht der Siegertyp, der Erfolge nach Verhandlungen ausgelassen feiert. Zutiefst menschlich greift er sich eher unspektakuläre Fälle, die signifikante Lebenslinien für Einzelne zeichnen. Dafür verbündet er sich mit der allzu fortschrittlichen, also entlassenen Gefängnischefin Safiya Masry (Indira Varma) und Ex-Senator sowie Anwaltskollege Roswell (Timothy Busfield), geht sogar wieder nach Belleville zurück, um einstige Mitinsassen zu unterstützen.
Auch privat ringt Aaron um Wiedereingliederung und gegen Zweifel, ob seine starke Liebe zu Ehefrau Marie (Joy Bryant) wirklich eine Chance hat, sucht nicht minder intensiv nach einer Beziehung zu Tochter Jasmine (Tyla Harris), die ihn schon zum Großvater werden ließ. Im Grunde aber will man Wallace kämpfen sehen – gegen das Justizsystem, betriebsblinde Staatsanwälte, für Benachteiligte im Sozialgefüge.
Natürlich trägt dieser Anwalt schwer an US-amerikanischen Realitäten eines latent gegenwärtigen Rassismus, bekommt aber zugleich, unabhängig von Hautfarben, allen Respekt für seine Lebensleistung. Um diese feine Balance wirklich zu vertiefen, hätte „For Life“ für weitere zehn Folgen erst einmal Luft holen müssen.
Streambar ab sofort auf Sky.