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Flucht nach Amerika

Die Dresdnerin Leonie Kullmann studiert und schwimmt nach der verpassten WM in Alabama – und spürt Unterschiede.

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© Thomas Kretschel

Von Daniel Klein

Ganz ohne geht es auch zwischen Heiligabend und Silvester nicht. Viermal schnappt sich Leonie Kullmann während der Woche Badeanzug, Kappe und Schwimmbrille und springt ins Becken. Eine Dresdnerin trainiert in Dresden, nichts Ungewöhnliches also. Doch das ist es. Die 18-Jährige lebte die vergangenen Jahre in Berlin, seit September studiert sie in den USA, es ist ihr erster Heimatbesuch.

Kullmann zählt zu den größten Talenten im deutschen Schwimmen, sie ist 16, als sie sich für die Olympia-Staffel von Rio qualifiziert. Doch im vergangenen Jahr verpasst sie die WM in Budapest. Knallharte Normen, Abistress und die Versetzung ihres Berliner Stützpunkttrainers – es gibt mehrere Gründe fürs Scheitern. Danach kehrt sie Deutschland den Rücken. Man könnte es als Flucht interpretieren vor den Bedingungen im Spitzensport. „Hierzubleiben war keine Option für mich“, sagt die Freistilspezialistin. „Ich wollte beides: studieren und schwimmen. In Berlin wäre die Uni fünf Kilometer von der Schwimmhalle weg gewesen, zu den Vorlesungen hätte ich es wahrscheinlich nur dreimal die Woche geschafft.“

An der Universität in Tuscaloosa, einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Alabama, steht auf einem riesigen Campus alles, was eine Schwimm-Studentin braucht: Internat, Hörsaal, Mensa, Trainingshalle. „Der Kraftraum dort ist so groß wie die Schwimmhalle in Dresden“, vergleicht sie. Es ist nicht der einzige Unterschied. Aufgefallen ist ihr, dass das Verhältnis zwischen Trainern und Athleten ein anderes ist. Nach ihrer Ankunft wird sie gefragt, in welcher Gruppe sie trainieren möchte: Kurz-, Mittel- oder Langstrecke. Auch sonst gibt es Empfehlungen, keine Vorgaben. Man habe viel mehr Mitspracherecht, sagt Kullmann.

Das Training selbst beschreibt sie als härter – in jeglicher Hinsicht. Sowohl der Umfang als auch die Intensität sind höher, als sie es bisher gewohnt sei. Es wird viel häufiger im Wettkampftempo geschwommen. „Am Anfang war das für mich eine große Umstellung.“ Dreimal die Woche geht es in den Kraftraum, zweimal zur „Armpflege“, so jedenfalls bezeichnet Kullmann die Übungen, die die Schultern vor Verletzungen schützen sollen.

Ob sich der Umzug in die USA und der Wechsel in ein anderes Trainingssystem bereits ausgezahlt hat, weiß sie noch nicht. Wettkämpfe bestritt sie bisher fast ausschließlich im Rahmen der Uni-Vergleiche. „Da geht es ums Prestige und richtig zur Sache, die Stimmung in den Hallen ist unglaublich“, berichtet sie. Geschwommen wird allerdings in 25-Yard-Becken, umgerechnet 22,86 Meter. Die Zeiten lassen sich deshalb kaum vergleichen.

Der Jahreshöhepunkt ist für Kullmann in diesem Jahr die EM Anfang August in Glasgow. Über 200 und 400 Meter Freistil sowie in der Staffel möchte sie dort starten. Für die Qualifikation sind diesmal nicht die Ergebnisse bei den deutschen Meisterschaften entscheidend. Die Athleten können die Normen von Januar bis April bei maximal drei Wettkämpfen erfüllen. „Ich habe dem Bundestrainer zwei Meetings genannt, er hat sie genehmigt“, erzählt Kullmann. Nach Europa reist sie dafür nicht extra, auch um Fehlstunden an der Uni zu vermeiden.

Sie studiert Ingenieurwesen im Bereich Infrastrukturplanung, Architektur und Umwelt. Vier Jahre sind geplant, das Stipendium würde auch fünf Jahre gezahlt. Schule, Essen, Internat, Training, sogar ein Flug in die Heimat pro Jahr – alles ist inklusive. Die Unterstützung erhält sie wie 60 andere Schwimmer an der University of Alabama aufgrund ihrer sportlichen Leistungen – genauso wie Leichtathleten, Ruderer, Basketballer, Fußballer und natürlich Footballer. Finanziert wird das von den restlichen Studenten, die Schulgeld zahlen müssen, von Spendern – und dem Football-Team der Stadt.

Wäre Kullmann in Berlin geblieben, hätte sie monatlich 500 Euro von der Sporthilfe bekommen und eine Unterstützung vom Olympiastützpunkt. Das sei zwar ganz nett, würde aber zum Leben nicht reichen, sagt sie. Eine Stelle in der Sportfördergruppe der Bundeswehr kam für sie nicht infrage. Das Finanzielle war aber nicht der Hauptgrund für ihren Umzug.

Die Verunsicherung im Nationalteam ist derzeit groß. Um den Rückstand zur Weltspitze aufzuholen, setzt Bundestrainer Henning Lambertz neue Schwerpunkte. Zunächst forderte er, dass der Umfang erhöht werden müsse, also mehr geschwommen werden soll – vor allem schon im Nachwuchs. Dann legte er ein Kraftkonzept vor, weil es seiner Meinung nach im Vergleich zur Konkurrenz an Muskelmasse fehle. Um seine Ideen umsetzen zu können, stellte Lambertz an den Stützpunkten Kollegen ein, die seinen Weg mitgehen. Dafür mussten andere weichen – so auch Kullmanns Heimtrainer. „Ich wäre gerne bei ihm geblieben“, sagt sie. „Mit ihm bin ich noch in Kontakt, mit dem Bundestrainer tausche ich mich weniger aus.“

Der Weggang war für Kullmann eine Art Neuanfang. Und gleichzeitig eine Rückkehr. Von 2008 an lebte sie schon einmal für drei Jahre in Tuscaloosa, ihr Vater arbeitete damals im Mercedes-Benz-Werk, dem größten Arbeitgeber im Ort. „Da habe ich in der Schule mit dem Schwimmen angefangen.“ Der Kreis schließt sich also.