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Frage der Moral - Staat bleibt auf Contergan-Problem sitzen

Grünenthal muss nicht für die Contergan-Opfer zahlen - auch nicht, wenn die Renten steigen. Der Staat kommt auf. Aber was ist mit der moralischen Pflicht des Aachener Pharmakonzerns?

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Von Elke Silberer, dpa

Aachen. Viele hatten anfangs gedacht, die Contergankinder werden vielleicht 20 Jahre alt. Jetzt sind sie um die 50 und in einem körperlichen Zustand von 70- bis 80-Jährigen. Sie brauchen Hilfe und dafür mehr Geld. Das sollen sie jetzt auch bekommen - maximal 6912 Euro, aus der Staatskasse. Grünenthal, der Verursacher des größten Arzneimittel-Skandals der deutschen Nachkriegsgeschichte, ist schon lange raus aus den Rentenzahlungen. Die vor Jahrzehnten gezahlten 100 Millionen Mark sind längst aufgebraucht. Seit 1997 zahlt allein der Steuerzahler - bisher knapp 290 Millionen Euro.

Die Firma Grünenthal bei Aachen hatte 1957 das Schlafmittel Contergan auf den Markt gebracht. Weltweit kamen etwa 10.000 Kinder mit schweren Missbildungen vor allem an Armen und Beinen zur Welt. Bis heute leiden sie unter den Folgen.

Mit der Rentenerhöhung kommen zu den jetzigen staatlichen Mitteln für die Betroffenen von jährlich 35 Millionen Euro weitere 120 Millionen Euro pro Jahr dazu: 90 Millionen für die Renten und 30 Millionen für spezielle Leistungen. Befremdlich findet der Opferverband Bund Contergangeschädigter (BCG), dass Grünenthal außen vor bleibt. Die Politik solle die Eigentümerfamilie Wirtz auffordern, sich an den Kosten zu beteiligen, heißt es vom Verband.

Ähnlich hatte das die SPD-Abgeordnete Christel Humme bei der ersten Lesung des Gesetzesentwurfs im Bundestag unlängst formuliert: «Auch wenn die Firma Grünenthal rechtlich nicht dazu verpflichtet ist, so bin ich persönlich davon überzeugt, dass es hier eine moralische Verpflichtung gibt.» Rein rechtlich ist Grünenthal nicht mehr zu belangen. Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Errichtung der späteren Conterganstiftung 1972 erloschen alle etwaigen Schadenersatzansprüche an das Unternehmen.

Der Vorsitzenden des Bundesverbands Contergangeschädigter, Margit Hudelmaier, ist ihr Ärger anzumerken. Grünenthal sei es gelungen, den Schaden hinter sich zu lassen, kritisiert sie. Für das Unternehmen gebe es über die Rentenzahlungen hinaus noch genügend Spielraum, sich zu engagieren.

In der Liste des «Manager-Magazins» der reichsten Deutschen stand Familie Wirtz im vergangenen Jahr mit einem geschätzten Vermögen von 2,5 Milliarden Euro auf Platz 43. Die Familie ist angesehen. Der Geschäftsführer der zweiten Generation, Michael Wirtz, war viele Jahre Präsident der IHK Aachen und ist jetzt noch Ehrenpräsident.

Bekannt ist der 74-Jährige für sein soziales Engagement in Ecuador und in der Palliativmedizin. Mit den Contergan-Opfern hat er sich schwergetan. Erst als Sohn Sebastian vorübergehend die Leitung des Pharmakonzerns übernahm, war an ein Ende der Eiszeit zu denken: Erste Gespräche, die Zahlung von 50 Millionen Euro - freiwillig.

Da waren die ersten umgerechnet 50 Millionen Euro aus dem Vergleich im Contergan-Prozess schon längst aufgebraucht. Aus den zweiten 50 Millionen Euro erhalten die Opfer Sonderzahlungen. Das sei ein Beitrag von Grünenthal zur Versorgung von Contergan-Opfern, erklärt das Unternehmen. Über seine Härtefall-Initiative habe es 100 Maßnahmen wie den Umbau von Bädern und Autos, spezielle Brillen, Hörgeräte oder die Anschaffung von Assistenzhunden finanziert. Über eine im vergangenen Jahr gegründete Stiftung werde das Unternehmen seine Hilfen ausweiten, eine Treuhandstiftung.

Mit den anvisierten höheren Renten bekämen deutsche Opfer vergleichbare Renten wie englische Contergan-Opfer, argumentiert Grünenthal. Für die Vorsitzende des Bundesverbands Contergangeschädigter bleibt ein ganz entscheidender Unterschied: «Der Staat zahlt in England nichts», sagt sie. In Deutschland zahle der Staat alles. (dpa)