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Frauen schreiben ihre eigene Knastzeitung

Internet ist tabu, geschrieben wird mit Stift und Block: Im Chemnitzer Frauengefängnis verfassen die Insassen eine ganz besondere Knastzeitung.

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Die Gefangenen Adriana M. (l) ihre Tochter (M) und Anne H. sitzen mit Redaktionsleiter Lutz Richter in einem Raum der Chemnitzer Justizvollzugsanstalt und besprechen die nächste Ausgabe der Gefangenenzeitung "HaftLeben".
Die Gefangenen Adriana M. (l) ihre Tochter (M) und Anne H. sitzen mit Redaktionsleiter Lutz Richter in einem Raum der Chemnitzer Justizvollzugsanstalt und besprechen die nächste Ausgabe der Gefangenenzeitung "HaftLeben". © Bodo Schackow/dpa

Von Martin Kloth

Chemnitz. Das Zimmer ist karg, spärlich möbliert und ein Gitter wirft Schatten durch das Fenster. Adriana M. und Anne H. sitzen im Besuchsraum der Justizvollzugsanstalt (JVA) Chemnitz und blättern im ausgedruckten Entwurf ihrer Gefangenenzeitung "HaftLeben". "Wir heben uns von den anderen Gefangenenzeitungen ab, weil nicht so viel über Drogen oder Justiz geschrieben wird, sondern über uns", sagt die 26-jährige Adriana.

Die ersten Abzüge der neuen Ausgabe hat Lutz Richter mitgebracht. Der 64-Jährige ist Stammgast hinter Gittern. Um seine Freizeit zu füllen, hatte der gelernte Elektriker nach eine ehrenamtlichen Tätigkeit gesucht und sich dann unter anderem in der Gefangenhilfe engagiert. Er gelangte dann über Umwege zur Gefangenenzeitung. Seit nahezu zwölf Jahren verantwortet der Vorruheständler "HaftLeben", die einzige Frauen-Zeitung Sachsens und Thüringens, die in einer Justizvollzugsanstalt entsteht. "Das macht Spaß", sagt Richter im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.

"HaftLeben" erinnert mit der glänzenden Titelseite und dem Farbdruck eher an eine Zeitschrift als an eine Zeitung und erscheint in dem für Sachsen und Thüringen zuständigen Frauengefängnis in Chemnitz. Sie ist eine von derzeit fünf Gefangenenzeitungen in Sachsen, die in unterschiedlichen Intervallen und mit Auflagen zwischen 40 und 800 Exemplaren erscheinen. In Thüringen gibt es derartige Zeitungen jeweils zwei Mal pro Jahr in den Gefängnissen Hohenleuben mit 400 und Tonna mit 700 Exemplaren.

Mitte März erscheint in der JVA Chemnitz Ausgabe Nummer 65 von "HaftLeben". Adriana und die 27 Jahre alte Anne sind zwei von sechs Häftlingen, die für die Zeitung schreiben. Wie Lutz Richter haben alle keine journalistische Vorbildung. Beide Frauen schreiben seit 2018 für das Heft. "Das ist ein guter Zeitvertreib. Und wir sind wortgewandt", sagt Anne.

Ein Probedruck der fertigen März-Ausgabe der Zeitung "HaftLeben".
Ein Probedruck der fertigen März-Ausgabe der Zeitung "HaftLeben". © Bodo Schackow/dpa

Vier Mal im Jahr sind 36 Seiten zu füllen. "Es ist noch nicht vorgekommen, dass wir ein Heft nicht voll bekommen haben", sagt Richter. Das Problem ist ein anderes: Die Texte sind zu lang. Sich kurz zu fassen und ein Ende zu finden, falle schwer, geben Adriana und Anne zu.

300 Exemplare werden vierteljährlich in der JVA Waldheim gedruckt. Jeder bekommt ein kostenloses Heft. Adriana und Anne sind zwei von 227 Strafgefangenen, die am Stichtag 20. Februar in der JVA Chemnitz einsitzen. Hinzu kommen nach Angaben von Anstaltsleiterin Eike König-Bender 43 Gefangene in Untersuchungshaft. Die JVA Chemnitz ist nicht nur Frauengefängnis, sondern auch Jugendarrest und hat zudem einen offenen Vollzug auch für männliche Gefangene.

Seit 1999 gibt es "HaftLeben", die anfangs im Kaßberg-Gefängnis als reine Männer-Zeitung erschien. Elf Jahre später, nach der Schließung der historischen Haftanstalt neben dem Landgericht Chemnitz und der Verlegung der Männer in andere JVA, wird daraus eine reine Frauen-Zeitung. 2016 kam die erste Zeitung ganz in Farbe heraus, seit 2017 ist die online als PDF abrufbar.

Auf den zwei zusammengeschobenen Tischen im kargen Besuchsraum stehen Kaffeebecher und eine Flasche Wasser, daneben liegen ein paar Gummibärchen. Adrianas Tochter ist zu Besuch. Nach anfangs schüchterner Zurückhaltung beteiligt sich die Grundschülerin in der kleinen Redaktionskonferenz an der Diskussion über den Inhalt der Zeitung. Sie hat sich unter anderem mit einem selbstgemalten Bild bereits an der Weihnachtsausgabe 2019 beteiligt und wünscht sich künftig mehr Beiträge für Kinder und von Kindern.

Die Ansichten einer Knast-Katze

An den Heften wird konzeptionell gearbeitet. Das Jahr 2020 steht unter dem übergreifenden Titel "Familie", das März-Magazin befasst sich mit dem Thema "Besuch". In "HaftLeben" handeln die Autorinnen Themen ab, die sie, aber auch andere Frauen in ihrem überschaubaren Umfeld bewegen. Das Spektrum reicht von Kosmetik- und Servicetipps über Backrezepte und Liedertexte bis hin zu teilweise sehr anspruchsvollen Aspekten wie Wendegeschichten, Empathie oder das emotionale Thema Familie. Alleinstellungsmerkmal der Zeitung ist die Kolumne "Ellis Kaffeekränzchen", in der wechselnde und nicht benannte Autorinnen die Ansichten einer Knast-Katze aufschreiben.

"Wir machen uns nicht nur Gedanken darüber, wie das Wetter draußen ist. Die Texte sind schon tiefgründig. Deswegen sind sie so lang", sagt Adriana. "Wir haben gute Schreiberinnen im Moment", urteilt Lutz Richter. Die Artikel aber entstehen auf eine Weise, die an die vor 100 Jahren erinnert. Jeden Text verfassen die Autorinnen in ihrer Freizeit in ihren Zellen handschriftlich. An drei Tagen in der Woche darf das Redaktionsteam für jeweils zwei Stunden an die drei zur Verfügung stehenden Computerarbeitsplätze. Dort werden die Beiträge dann in ein Worddokument übertragen.

Weil es keinen Internetzugang gibt, erfolgt die Recherche zu offenen Fragen in der Bücherei, in der Offline-Version von Wikipedia oder in Zeitungen. Stifte, Blöcke oder auch der obligatorische Kaffee müssen aus eigener Tasche bezahlt werden. "Wir bekommen von der JVA null Unterstützung", beklagt Richter.

Vor dem Erscheinen werden die Artikel von der Anstaltsleitung genehmigt - nicht alle Texte nehmen diese Hürde. Mitunter nehmen die Autorinnen aber auch eine Art Selbstzensur vor. So spielt das Thema Politik eine untergeordnete Rolle, Sex gar keine. Auch wollen die Frauen nicht zu viel ihres Innersten preisgeben, um sich nicht angreifbar zu machen. "Wir achten darauf, dass die Texte nicht zu intim werden", sagt Adriana.

Chance der eigenen Meinung

Die Justizministerien in Sachsen und Thüringen halten Gefangenenzeitungen für wichtige Elemente der Alltagsgestaltung und des Zusammenlebens in Gefängnissen. Sachsens neue Justizministerin Katja Meier hebt hervor, dass die Mitarbeit an einer Gefangenenzeitung den Inhaftierten die Chance gebe, im Team zu arbeiten und ihre Kreativität weiterzuentwickeln. "Außerdem diskutieren sie miteinander im Redaktionsteam und können sich so aus der Meinungsvielfalt eine eigene Meinung bilden", betont die Grünen-Politikerin.

Ähnlich wird es im Thüringer Ministerium gesehen. Eine Gefangenenzeitung stellt "grundsätzlich ein wichtiges Element für die Vollzugsgestaltung dar, da diese als "Sprachrohr" zur Vermittlung wichtiger anstaltsinterner Informationen dienen und Gefangenen zudem eine anspruchsvolle und abwechslungsreiche Freizeitmaßnahme bieten kann".

"HaftLeben" muss weitgehend ohne Unterstützung aus den Ministerien auskommen. Sachsen zahlt für drei Gefangenenzeitungen an die jeweiligen betreuenden Straffälligenhilfsvereine rund 2000 Euro. Das Chemnitzer Blatt aber erscheint unter Federführung der JVA. Diese würde laut Ministerium die Zeitung über ihr zugewiesene Wirtschaftsmittel des eigenen Sachhaushalts finanzieren. In Thüringen wird generell so verfahren. Seitens des Justizministeriums gebe es keine regelmäßige Beteiligung, auch nicht länderübergreifend, heißt es aus Erfurt. (dpa)