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Frei gehackt durchs Mauerwerk

Als Kind zog Ernst Morche mit der ganzen Familie ins neu gebaute Arresthaus ein. Der Vater war Gefängniswärter.

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© Archiv/Klaus-Dieter Brühl

Von Birgit Ulbricht

Großenhain. Das Gefängnis als Erlebnisknast. Seit Jahren ist der markante Bau am alten Amtsgericht eine interessante Adresse für Leute, die ihre Alltagskleidung mit Häftlingsstreifen tauschen, die sich einschließen oder auch mal anschreien lassen wollen und freiwillig einrücken, dafür sogar noch bezahlen. Frühere Insassen dürften das anders empfunden haben. Auf der Suche nach Zeugnissen aus dieser Zeit hat die SZ überall gesucht, im Stadtarchiv, im Museum, bei der Kreisverwaltung. Erst im sächsischen Staatsarchiv in Dresden wurde die SZ fündig. Vergilbte Akten, Briefwechsel und Listen sind nun gesichtet – um ein Stück Alltag aus anderen Gefängnis-Zeiten greifbar zu machen.

1877 bis 1935

Unter dem Titel „Das neue Arresthaus“ veröffentlicht Oberlehrer Ernst Morche im Großenhainer Stadt- und Landkalender 1936 seine Kindheits- und Jugenderinnerungen zum Gefängnis, wo sein Vater Aufseher war. Sie beginnen damit, dass im Laufe des Jahres 1877 zwei Gebäude an der heutigen Meißner Straßen entstanden – das neue Amtsgericht und das dazugehörige Arresthaus. Zuvor mussten Gefangene zu jedem Verhör durch die Stadt geführt werden. Am Katharinenplatz lag beides nun unmittelbar nebeneinander.

Der Innenausbau ging so rasch vorwärts, dass der Einzug schon im Mai 1878 erfolgte. Ernst sieht den Zug noch vor sich, vorneweg sein Vater, rechts und links Polizeibeamte, in der Mitte die Gefangenen. So werden sie zu ihrer neuen Stätte gebracht. Hintendrein der Möbelwagen der eigenen Familie. Denn die zog gleich mit in die „Dienstwohnung“. Den Möbelwagen zierte ein großes sächsisches Wappen, geflochten aus Stroh von einem Gefangenen. Dass die Häftlinge für die Aufseherfamilie viele Gegenstände anfertigten, wusste der junge Ernst sehr wohl. Kokosfasermatten als Vorleger, ja die komplette spätere Junggesellenausstattung des jungen Ernst, fertigen Tischler, Schneider, Sattler und Tapezierer an. Damals war das üblich.

Auch sonst richtete sich die Familie, so gut es ging, hinter einer großen Mauer ein. Eingeschlossen zu sein, war sie von der Frohngasse nicht gewöhnt. Doch die Familie legte einen Obst-, Gemüse- und einen Blumengarten an. Dass sie dabei immer wieder auf Schädelreste, Rippenknochen Zähne oder Beinknochen vom früheren Katharinenfriedhof stieß, beflügelte eher die Fantasie der Kinder, als dass es diese gruselte. Im Blumengarten stand eine kleine Laube, umrankt von Wildem Wein, im Gemüsegarten gab es sogar eine hohe Laube, die Ernst Morche weißte. Von hier hatte der Junge Aussicht über die Mauer. Er sah die Trompeter der vorbeiziehenden Schwadronen, die Häftlinge, wie sie Holz hackten im extra eingezäunten Gefangenenhof. Für den Jungen ein Abenteuer.

Wie aufregend muss es für den kleinen Ernst gewesen sein, als er mit anderen Jungen eines Tages beim Bau einer Wasserleitung dabeistand, wie ein Stück eines grün angestrichenen Sarges mit metallenen Beschlägen gefunden wurde. Der Katharinenfriedhof hatte offenbar unter der Gefängnismauer viel weiter ins Grundstück hineingereicht, als man vermutet hatte. Der kleine Ernst ließ sich jenes Stück Holz mit den Beschlägen geben, die Erwachsenen hatten dafür keinen Sinn. Doch er zeigte es dem Goldschmied „Grünewald Adolphen“ an der Frongasse.

Wie alle Kinder mochte er den gutmütigen Mann, und Ernst hoffte inständig, dass er Silber gefunden hätte. Leider war es nur Blei. Was für eine Enttäuschung. Zu den Adolphs gingen die Kinder gern, in der Tasche hatten sie meist Raupen oder seltene Schmetterlinge: Der Goldschmied war Entomologe und wusste so manches über die Schmetterlinge zu erzählen.

Im Winter vertrieben sich die Jungen dagegen beim Schlittschuhfahren auf den zugefrorenen Schlosswiesen. die regelmäßig überschwemmt waren. Bei besonders strengem Frost schlitterten die Kinder teils auf der Röder, teils auf den Wiesen bis zum Bobersberg, einmal sogar bis nach Folbern.

Ausbruchswerkzeug in der Zelle

Ernst Morche beschreibt auch das Innenleben der Zellen, und das hat seinen Grund: Im neuen Arresthaus gab es viel mehr Zellen, und in jeder Zelle befand sich eine eigene Bettstelle, die tagsüber an die Wand geschraubt wurde. In der Frohngasse schliefen die Gefangenen noch auf Strohsäcken, die sie morgens am Gangende aufstapeln mussten.

In jeder Zelle gab es auch einen Tisch und einen Sitz, die auf einer Seite an der Wand befestigt waren und auf der anderen Seite auf einer eisernen Gabelstütze ruhten, die hochgeklappt werden konnte. „Man hat den Kerlen gleich die Brechstange zum Ausbrechen mit in die Zelle gegeben“, habe sein Vater am Abend gesagt. Und er sollte als bald Recht behalten.

1879, kurz vor Heiligabend, ging der Vater mit mehreren Polizeibeamten los, um eine Verhaftung vorzunehmen. Der Delinquent sollte in der „Bayrischen Bierhalle“ wohnen und eine Waffe haben. Sie überraschten den Mann im Bett. Als der neben sich zum Gewehr griff, war es schon zu spät. Er galt fortan als gefährlicher Arrestant und war in der Zelle an Ketten angeschlossen.

An einem kalten Sonntagmorgen kam die große Schwester ins Haus zurückgestürzt, die gerade Asche hinausbringen musste. Etwas ganz Langes baumele vom Fenster einer Zelle herunter! Der Vater sprang auf und rannte hoch über den oberen Korridor, wo ein Angestellter mit Gefangenen schon die Öfen anheizte. Zelle 6 wurde aufgeschlossen – sie war leer. Und nicht nur das. Msjö F. war ausgeflogen.

Er hatte, wie sich schnell herausstellte, als Schieferdecker beim Bau des Arresthauses mitgeholfen und bemerkt, dass unter den Fenstern die Mauer nicht massiv gebaut war, sondern einen Hohlraum aufwies. Erst einen Tag vor seinem Ausbruch waren ihm auf Anweisung des Amtsvorstandes die Ketten abgenommen worden. Als Sonnabendabend die Bettstelle heruntergeklappt wurde und endlich Ruhe ins ganze Haus einzog, hatte er die eiserne Gabelstütze losgewuchtet und sich ans Werk gemacht.

Hören konnte ihn offenbar niemand – die Zelle nebenan hatte man absichtlich leer gelassen, damit er sich nicht mit anderen verständigen konnte, unter der Zelle befand sich just der Wirtschaftsraum. Mit dem Bettzeug wurde die Mauer verdeckt, wo er emsig das Mauerwerk aushöhlte – „nach meiner Erinnerung lag ein Häufchen Hobelspäne in der Höhlung, als wir Jungen mit Gruseln in die Zelle guckten“, schreibt Morche.

Trauriges Ende einer Flucht

Jedenfalls war der Häftling weg. Er hatte sich durch ein kleines, von Mauerwerk scharfkantiges Loch gezwängt, halbnackt, denn die meisten Kleidungsstücke hatte er mit der Decke zum einem Seil verflochten. Blutspuren bewiesen, wie schmerzhaft das gewesen sein musste. Über das Laubendach kam er wohl ins Freie über die Mauer. Die Verfolgung blieb ergebnislos. Nach einigen Wochen hieß es, Msjö F. habe einem Förster das Gewehr aus dem Flur gestohlen. Es wurde schon Frühling, da fand man den Geflohenen am Spitalteich erschossen, eben mit jenem Gewehr hatte er seinem Leben ein Ende gemacht.

So endete die Erinnerung von Ernst Morche an das Großenhainer Gefängnis und irgendwann auch seine Kindheit.

Großenhainer Knast-Geschichten, Teil 2, Alltag im Knast, 1935 bis 1943,
Mittwoch 4. Oktober.