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Als Sachsen von Grillenburg aus regiert wurde

Am 15. Februar 1945 zog Martin Mutschmann mit Gefolge auf die Schlossinsel Grillenburg. Am 7. Mai gab der Gauleiter und Reichsstatthalter auf.

Von Dorit Oehme
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Historiker Prof. Mike Schmeitzner vom Hannah-Arendt-Institut der TU Dresden steht mit seinem Buch zu Martin Mutschmann in Grillenburg.
Historiker Prof. Mike Schmeitzner vom Hannah-Arendt-Institut der TU Dresden steht mit seinem Buch zu Martin Mutschmann in Grillenburg. © Daniel Schäfer

Die alten Regierungsgebäude sind zerstört. Martin Mutschmanns Villa am Großen Garten in Dresden zum Teil auch. Doch er, der damalige sächsische Gauleiter, Reichsstatthalter und Ministerpräsident, hat die Bombenangriffe auf Dresden vom 13. und 14. Februar 1945 überlebt: Im Garten seiner Villa liegt sein Privatbunker. Unterm Albertinum befindet sich ein zweiter moderner Bunker, den die Leitung der örtlichen NSDAP nutzt – bei Bedarf auch er.

Zivile Luftschutzmaßnahmen hat Mutschmann dagegen vernachlässigt. „Das war damals schon länger ein Thema in der Stadt“, sagt Mike Schmeitzner vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. Der Historiker schreibt gerade an einer Gesamtbiografie Mutschmanns, der als Judenhasser und Provinzdespot agierte. Seit dem Jahr 2011 liegt bereits Schmeitzners Buch „Der Fall Mutschmann – Sachsens Gauleiter vor Stalins Tribunal“ vor; eine Studie über den Mutschmann-Prozess nach 1945. Der Geschichtsexperte unterstreicht: „Mutschmanns Name steht immer noch als Synonym für die NS-Zeit in Sachsen. Deshalb ist die Aufarbeitung so wichtig.“

Geflüchtete NS-Funktionäre

Zahlreiche Spitzenämter übte „König Mu“, wie er im Volksmund spöttisch genannt wurde, zugleich aus. Als Gaujägermeister ließ er das einst kurfürstliche Jagdschloss in Grillenburg zum „Sächsischen Jägerhof“ aus- und umbauen. Zur Eröffnung im Jahr 1936 kam Reichsjägermeister Hermann Göring, Mutschmanns Jagdfreund.

Nach der Zerstörung Dresdens führt Mutschmann seine Geschäfte als Reichsstatthalter ab dem 15. Februar provisorisch vom „Sächsischen Jägerhof“ fort. Zur Anlage gehört ein Luftschutzbunker. Auch Mutschmanns Frau Minna und 14 Familien aus dem engeren Parteigefolge kommen auf der Schlossinsel unter. Darunter der Kreisleiter der Dresdner NSDAP, Hellmut Walter, und Hitlers Schwager Martin Hammitzsch.

Zudem nimmt Mutschmann geflüchtete NS-Funktionäre wie den bisherigen Gauleiter von Köln-Aachen, Josef Grohé, auf. Unterkünfte gibt es im 1939 eingeweihten Neuen Jägerhaus und in Nebengebäuden. Auch der Fahrer Mutschmanns lebt samt Familie mit dort. „Seine Kinder und die der anderen Familien gingen im Ort in die Schule“, sagt Mike Schmeitzner.

Eines der Gebäude auf der Schlossinsel Grillenburg, die leer stehend dem Verfall preisgegeben sind.
Eines der Gebäude auf der Schlossinsel Grillenburg, die leer stehend dem Verfall preisgegeben sind. © Daniel Schäfer

In Tharandt gibt es seit einiger Zeit die Initiative zu einem Mitmach-Raum-Tagebuch zum Kriegsende im Tharandter Wald. Darin erfahren Interessierte auch, was in der Gegend in jenem Zeitraum passierte. Seit dem 13. Februar ist der Blog des gemeinschaftlichen Rechercheprojektes online. Die Initiatorinnen und Leiterinnen Anke Binnewerg und Carola Ilian füllen ihn schrittweise mit Ergebnissen, teils sogar taggenau zu 1945.

Als die Rote Armee vorrückte

Mutschmann fährt ab Mitte Februar von Grillenburg aus regelmäßig zur Gau-Behelfszentrale in den Lockwitzgrund südlich von Dresden. Am 24. Februar nimmt er an der letzten Gauleiter-Besprechung mit Hitler in Berlin teil. Als Reichsverteidigungskommissar setzt er alles daran, die Kriegsproduktion in Gang zu halten und Volkssturmeinheiten zusammenzustellen. Als die US-Armee am 17. April zum Sturm auf Leipzig ansetzt und die Rote Armee schon in Ostsachsen steht, ruft er fanatisch zum Widerstand bis zum Letzten auf. Wer sich widersetzt, wird standrechtlich erschossen. Äußern sich hohe SS-Funktionäre kritisch, geht er ebenfalls entschlossen vor. Er betitelt sogar den Offizier Werner Vogelsang, der ihm im März als Militärberater zugeordnet worden ist, Ende April als „Kapitulanten“.

Noch einen Tag nach Hitlers Tod, demonstriert Mutschmann am 1. Mai in Meißen Kampfentschlossenheit. Am 5. Mai erscheint nur knapp die Hälfte der NSDAP-Kreisleiter zum Treffen in der Gau-Behelfszentrale im Lockwitzgrund. Die anderen sind von den vorrückenden Alliierten gefangen genommen worden oder haben den Freitod gewählt. Mutschmann gibt am 7. Mai auf. Ein Untergebener beschreibt den Moment in der Gauleiterzentrale so: „Er legte seine Pranken auf meine Schultern und sagte: ‚Es ist alles verloren.‘“

In Versteck festgenommen

Am 6. Mai ist von Grillenburg bereits ein Flucht-Transport mit Mutschmann-Referent Eugen Schramm, Hitler-Schwager Hammitzsch, einer Stenotypistin, Mutschmanns Ehefrau und Josef Grohé nach Oberwiesenthal gestartet. Grohé, der einstige Gauleiter von Köln-Aachen, taucht später in Richtung Westen unter. Er ist in Sachsen weitgehend unbekannt.

„Mutschmann dagegen kannte jeder. Seine Fotos waren täglich in den Zeitungen, selbstherrlich wie er war“, sagt Mike Schmeitzner. Am Abend des 16. Mai 1945 erhält der Oberwiesenthaler Bürgermeister Hermann Klopfer (SPD), erst kurz im Amt, einen Anruf aus der nahen Siedlung Tellerhäuser: Im Haus eines Kohlenhändlers hält sich Mutschmann nach mehrtägiger Flucht versteckt. Polizisten und Freiwillige umstellen das Haus. Mutschmann wird mit weiteren NS-Funktionären festgenommen.

In Annaberg wird Mutschmann am 17. Mai öffentlich zur Schau gestellt. Im Polizeigefängnis Chemnitz übernimmt ihn der sowjetische Geheimdienst. Aus ganz Sachsen werden Berichte über ihn angefordert. Aus Leipzig kommt ein differenzierter Bericht. Darin klärt der Oberbürgermeister auch darüber auf, dass der frühere sächsische Innenminister Hermann Liebmann infolge der schweren Misshandlungen im KZ Hohnstein in der Sächsischen Schweiz schon im Jahr 1935 verstorben ist. Mitverantwortlich war Mutschmann.

Akten von Geheimdienst klären auf

„Mutschmann war unter den 43 Gauleitern des Deutschen Reiches einer der mächtigsten, fanatischsten und brutalsten. Sein Ende blieb über die ganze DDR-Zeit hinweg – und länger – unbekannt. Auch Anfragen des Ministeriums für Staatssicherheit in Moskau blieben unbeantwortet“, sagt Mike Schmeitzner. Nach 1990 stellt das Archiv des Ex-KGB dem Holocaust-Memorial in Washington Kopien von Akten mehrerer NS-Verbrecher zur Verfügung, auch die von Mutschmann.

Auf Grundlage dieser Akte arbeitete Schmeitzner den Fall des sächsischen Gauleiters auf, wobei er auch selbst in Moskau forschte. Dort war Mutschmann nach einem Geheimprozess auf Beschluss der obersten sowjetischen Führung am 14. Februar 1947 im Zentralgefängnis des sowjetischen Geheimdienstes erschossen worden.


Dass das schon länger geplante Tagungs- und Konferenzzentrum der TU Dresden und der TU Bergakademie Freiberg auf dem Grillenburger Areal errichtet werden soll, begrüßt Schmeitzner sehr. „Damit zieht ein neuer Geist auf der Schlossinsel ein, und so wird auch Grillenburg als Ort aufgewertet“, sagt der Historiker. Er arbeitet auch im Freundeskreis Geschichte Mohorn mit, der das Raum-Tagebuch mit Material unterstützt hat.

Am 8. Mai, dem Tag, an dem der Zweite Weltkrieg in Europa endete, ist dieser Verein Gastgeber für Interessierte des Recherche-Projektes. Der Historiker betont: „Es war wichtig und nötig. Denn so wurden Erinnerungen der letzten Zeitzeugen erfasst, die sonst wohl verloren gegangen wären.“

Literaturtipp: Mike Schmeitzner: Der Fall Mutschmann, erschienen im Sax-Verlag, 176 Seiten, 14,80 Euro.

Veranstaltungen zum Raum-Tagebuch: 8.5., 18.30 Uhr: Vereinshaus „Lokschuppen“ Mohorn, Bahnhofstraße 8, Ergebnissen zu Mohorn und Umgebung; 12.5., 19.30 Uhr: Buchhandlung Findus in Tharandt: Ergebnisse zu Tharandt und Umgebung.

Zum Blog: www.Raumtagebuch-Kriegsende-im-Tharandter-Wald.de