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Deubener Schieritz-Familie schreibt Varieté-Geschichte

Freitaler Arbeitersportler begeisterten vor hundert Jahren sogar in den USA.

Von Heinz Fiedler
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Einen Namen machten sich die jungen Freitaler in den USA, wo selbst die Dächer von Wolkenkratzern zu ihren Bühnen gehörten.
Einen Namen machten sich die jungen Freitaler in den USA, wo selbst die Dächer von Wolkenkratzern zu ihren Bühnen gehörten. © SZ-Archiv

Er war keine auffällige Erscheinung, kein Mann, dem die Unternehmungslust nur so aus den Augen blitzte. Erich Schieritz um 1888 in Deuben geboren, galt schlechthin als ein Muster an Bescheidenheit. In kritischen Situationen konnte er ausgleichende Akzente setzen, ein Mann, der sich aufs Abwarten und Zuhören verstand. Auch in seinem Falle sollte es sich zeigen: Stille Menschen sind oftmals im Stande, ihren geheimen Träumen konkrete Konturen zu verleihen.

In der Gedankenwelt des in der Glasfabrik der Gebrüder Malky tätigen Arbeiters spielte das Fahrrad eine nicht mehr zu verdrängende Rolle. Nicht die üblichen Modelle, die mehr und mehr im Straßenbild aufkreuzten. Ihm schwebten Exemplare vor, die man auf Varietébühnen und zu Sportveranstaltungen sah. Einräder in verschiedenen Dimensionen, bis zu drei Meter Höhe, Maschinen, die sich während einer Vorführung zur Verblüffung des Publikums auseinander nehmen ließen.

Untermann Anna

Vermutlich war es der Arbeiterradverein Deuben, der sein Mitglied Erich Schieritz darin bestärkte, sich im Kunstradfahren, das seinerzeit noch in den Kinderschuhen steckte, zu versuchen. Er verstehe sich doch auf Kunststückchen im Sattel. Der Glasmacher ließ sich inspirieren. Mit der ihm eigenen Gründlichkeit machte er sich daran, die nötigen Voraussetzungen für sein Hobby zu schaffen.

Wie kommt man zu einem Rad, das völlig aus der Art schlägt? Erich Schieritz ging ans Tüfteln – ein Amateurkonstrukteur, dem Erstaunliches einfiel. Dennoch hätte sein Fantasiegebilde kaum Chancen gehabt, jemals zu rollen, wären nicht Kontakte zu den Hainsberger Metallwerken zustande gekommen. Die Firma an der Weißeritz genoss als Hersteller des Markenfahrrades „National“ einen guten Ruf. Mitarbeiter des Unternehmens gaben den Schieritz-Entwürfen den letzten Schliff, zudem übernahm der Betrieb die Fertigung.

Die Schieritz-Familie konnte ihre Kunstradsport-Auftritte mindestens auf eine halbe Stunde ausdehnen.
Die Schieritz-Familie konnte ihre Kunstradsport-Auftritte mindestens auf eine halbe Stunde ausdehnen. © SZ-Archiv

Auch der Aufbau einer Darbietung, die der Deubener mit seiner Ehefrau Anna zu bestreiten gedachte, machte Fortschritte. Anna, sportlich gewandt und kräftig genug, um als Untermann zu agieren, erwies sich auch auf dem Rad als eine ideale Partnerin. Und dann kam alles ins Rollen. Vereine aus dem Plauenschen Grund verpflichteten das Deubener Duo zum Vergnügen in einheimischen Gaststätten. Bisweilen meldeten sich Dresdner Veranstalter. Allmählich begann man vom ungewöhnlichen Ehepaar Schieritz zu sprechen.

Die eigentliche Glanzzeit brach an, als die beiden Schieritz-Kinder Alfred (Jahrgang 1912) und Johanna (1916) mit einsteigen konnten. Zu viert gewann die Darbietung, die sich bis auf eine halbe Stunde ausdehnen ließ, merklich an Attraktivität. Auf Annas Schultern thronte die gesamte Familie, Kopf- und Handstände auf Sätteln und Lenkstange, zu zweit auf einem Einrad, originelle Formationen und Kapriolen. Im Grunde genommen all jene Tricks und Passagen, die auch heute noch üblich sind – viel hat sich nicht geändert.

Auf den Dächern der Wolkenkratzer

Gern arbeitete die Schieritz-Familie auf geräumigen Parkettflächen, wie zum Beispiel in Krilles Gasthof in Döhlen oder im „Goldenen Löwen“. Die Zeit kam, wo sich die Auftritte nicht mehr nur auf das Gebiet zwischen Dippoldiswalde und Dresden beschränkten. Das Deubener Quartett, in einer Dachwohnung im Grützner Viertel zu Hause, reiste in alle Richtungen von Sachsen und Thüringen, was beschwerlich genug war. Denn die Familie besaß kein Auto, man war auf Bahn- und Busverbindungen angewiesen. Jedes Mal musste man sich mit Räder und Requisiten abschleppen. Strapaziöse Hin- und Rückreisen, die man indes in Kauf nahm. Applaus und Erfolge entschädigten für alle Erschwernisse.

Ältere Freitaler sind noch heute in Besitz von Ansichtskarten, die das Ensemble aus dem Grützner-Viertel in verschiedenen Posen zeigen. Unterschrift: „Weltmeisterfamilie Schieritz, Freital-Deuben bei Dresden“. Über den Titel Weltmeister kann man noch immer rätseln. Sollte es sich hierbei um einen Reklamegag gehandelt haben, angesichts der sprichwörtlichen Bescheidenheit der gesamten Familie schwer vorstellbar. Näher liegt da schon die Vermutung, dass sich das Deubener Quartett bei internationalen Titelkämpfen des Arbeitersports behaupten konnte.

Gern arbeitete die Schieritz-Familie auf geräumigen Parkettflächen, wie zum Beispiel in Krilles Gasthof in Döhlen oder im „Goldenen Löwen“.
Gern arbeitete die Schieritz-Familie auf geräumigen Parkettflächen, wie zum Beispiel in Krilles Gasthof in Döhlen oder im „Goldenen Löwen“. © SZ-Archiv

Als sich Erich und Anna Schieritz altershalber für immer von seinen Spezialrädern trennten, entwickelten die Geschwister Alfred und Johanna eine eigene Darbietung, natürlich wieder per Rad. Dritter im Bunde soll ein entfernter Verwandter gewesen sein. Als Trio Shyretto machte sich die neue Formation, die mit effektvoll-riskanten Tricks, Tempo, Exaktheit und einem hohen Maß an Synchronität bestach, in verschiedenen europäischen Ländern einen Namen.

Von Verwandten vermittelt, trat das Trio Mitte der 30er-Jahre zu einer USA-Tournee an, die zum Dauerzustand wurde. Die jungen, gut aussehenden Artisten aus Germany waren gefragt, konnten sich eine sichere Existenz aufbauen. Selbst die Dächer von Wolkenkratzern gehörten zu ihren Bühnen.

Weitere Einzelheiten sind uns leider nicht bekannt. Nur so viel: Nach dem Tod von Erich Schieritz siedelte Gattin Anna wohl Anfang der 60er-Jahre auf Wunsch ihrer Kinder in die USA über. Fern der Heimat vollendete sich die künstlerische Laufbahn der Schieritz-Geschwister.

Die Auftritte der vier aus dem Grützner-Viertel sind in Freital noch nicht ganz in Vergessenheit geraten. Manch einer weiß sogar noch, wo die Schieritz-Familie einst wohnte – gegenüber der ehemaligen Westendschlösschen-Gaststätte.