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Freitaler Tafel betreut Flüchtlingskinder

Dreimal in der Woche treffen sich die Mädchen und Jungen. Es wird gemalt, gespielt, Deutsch gelernt. Und es werden Tränen getrocknet. Wie lange geht das gut?

Von Annett Heyse
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Gudrun Pokorn (li.) und Isabel Raue (hinten Mitte) üben mit Arina und Anna Schulaufgaben.
Gudrun Pokorn (li.) und Isabel Raue (hinten Mitte) üben mit Arina und Anna Schulaufgaben. © Karl-Ludwig Oberthür

Freitals ungewöhnlichste Kita und zugleich Schule ist ein Laden in Potschappel. Hier verteilt die Freitaler Tafel an zwei Tagen in der Woche Lebensmittel an Bedürftige. Nun sitzen Kinder an langen Tischen, sie malen Arbeitsblätter mit Buchstaben aus: W wie Wal, A wie Affe, Z wie Zebra.

Es sind aber keine Erstklässler, sondern eine bunte Mischung vom Dreijährigen bis zum 16-jährigen Teenager. In einem Nebenraum wuseln zwei Kleinstkinder herum, sie haben soeben einen Brummkreisel für sie entdeckt. Alles Flüchtlingskinder aus der Ukraine.

Betreut werden sie von freiwilligen Helfern wie Isabel. Sie ist eigentlich für die Lebensmittelausgabe zuständig, nun stellt sie Stifte auf den Tisch und verteilt Schreibhefte. "Ich mache das gern, ich habe selbst fünf Kinder", sagt sie. Ihr einziges Problem: Sie kann kein Russisch.

Dafür ist Irina da. Irina lebt seit 20 Jahren in Freital, in ihrer Heimat, der heutigen Ukraine, wuchs sie zweisprachig auf. Die perfekte Dolmetscherin.

Erst einmal im Hotel untergekommen

Irina hat an diesem Freitag extra freigenommen, um in der Mini-Schule auszuhelfen. Sie leitet die Kinder an, erklärt ihnen deutsche Begriffe, lobt das schöne Schriftbild einer 13-Jährigen.

"Ein Teil der Kinder kommt aus Dnipro", berichtet Irina. Dort seien zwar noch keine russischen Bodentruppen unterwegs, aber es habe Raketenangriffe auf die Stadt gegeben. Andere kommen aus Schytomyr, einer Großstadt etwa drei Autostunden westlich von Kiew, die bereits mehrfach unter Beschuss stand. Die Kinder und ihre Mütter wurden mithilfe von Mitarbeitern der Tafel nach Freital gebracht.

Die ersten Kriegsflüchtlinge kamen vor knapp drei Wochen an, leben seitdem im Hotel "Zur Linde". Andere Ukrainer sind in Freital erst einmal privat untergekommen, bei Freunden oder Verwandten, die hier schon seit Jahren leben. Auch Irinas Familie hat Verwandte aufgenommen.

Sie hilft nun nicht nur bei der Kinderbetreuung aus, sondern auch bei Behördengängen und Verhandlungen mit Vermietern. "Das ist viel Papier. Die schicken das alles zu mir und ich gehe das alles durch und übersetze."

Nach dem ersten Schock Hilfe angekurbelt

Dass die Freitaler Tafel sich derart engagiert, hat viel mit ihrem Einsatz in den vergangenen Jahren zu tun. Schon länger unterhält der Verein Beziehungen nach Schytomyr, dort speziell zu einem Heim mit behinderten Kindern.

Als der Krieg begann, war man bei der Tafel erst einmal geschockt. "Wir haben ein paar Tage gebraucht, um uns zu sammeln und zu sagen: Wir helfen", berichtet Vereinsvorsitzende Karin Rauschenbach. Zwei Hilfstransporte hat man bereits über die Grenze geschickt und es sich zur Aufgabe gemacht, die Kriegsflüchtlinge in Freital zu unterstützen. Dabei kooperiert die Tafel mit dem Verein Zusammenleben und der Caritas.

"Die Kinder sind seit drei Wochen nur mit ihren Müttern zusammen. Die müssen mal raus, brauchen andere Eindrücke und sie sollen auch Deutsch lernen", sagt Karin Rauschenbach. Denn auch wenn viele Flüchtlingsfamilien jetzt sagen, sie wollen sofort zurück, wenn der Krieg vorbei ist - die große Frage wird sein: Was finden sie dort vor, ist das Wohnhaus noch da und leben die Verwandten noch?

Irina schätzt, dass wohl die Hälfte aller Geflüchteten bleiben wird.

Zukunftspläne für Deutschland

Frauen wie Lena. Sie ist 44 und steht hinter den Kindern, beobachtet sie beim Schreiben, korrigiert. Lena war in der Ukraine Lehrerin für Informatik und Computertechnik an einer Schule. Sie stammt aus Kriwoi Rog, einer Großstadt westlich von Saporischschja und Dnipro. Sie flüchtete mit ihrer erwachsenen Tochter.

Die Tochter studiert Medizin, sie hat sich schon entschieden, in Deutschland ihren Abschluss zu machen. Auch Lena hat Zukunftspläne für Deutschland, übersetzt Irina. "Sie möchte die Sprache lernen und hat sich schon nach einem Kurs bei der Volkshochschule erkundigt. Arbeiten möchte sie auch, sie sagt, sie könne alles machen."

Nun hilft Lena erst mal bei der Kinderbetreuung. Sie erzählt, dass sie Kontakt zu ihrem Mann per WhatsApp halte. Das funktioniere ganz gut. Und sie bangt mit jeder Nachricht aus der Heimat mit. "Dnipro wurde heute wieder bombardiert."

Aus dem Lebensumfeld gerissen

Während die Erwachsenen mit Behördengängen und dem Organisieren ihres neuen Lebens beschäftigt sind, fallen die Kinder praktisch ins Nichts. Sie wurden von Vätern und Großeltern, von Schule, Kindergarten, Freunden, Sportvereinen regelrecht weggebombt.

"Die Kinder sind so still und in sich gekehrt. Sie wurden vollkommen aus ihrem Lebensumfeld gerissen, dabei haben sie doch ein Recht auf ein glückliches Leben", sagt Karin Rauschenbach. Nun sitzen die Mädchen und Jungen mit ernsten Gesichtern am Tisch, malen die Buchstaben aus, reden kaum, wirken äußerst diszipliniert und konzentriert. Oberflächlich betrachtet. Eigentlich, meint Karin Rauschenbach, brauche man noch einen Psychotherapeuten.

Denn innerlich sieht es bei den Kindern anders aus. Ein kleines Mädchen weint unvermittelt los. Die Tränen kullern über die Wangen der Fünfjährigen. Sie lehnt sich an den großen Bruder, einen Teenager, der sie tröstet. Irina nimmt sich der Kleinen an, lenkt sie ab, ermuntert sie, noch weiter die Buchstaben auszumalen. "Die Kinder wollen nach Hause, sie fragen danach. Sie wollen zurück zu ihren Vätern", berichtet Irina.

Etwas Halt und Struktur geben

Auch deshalb sei es so wichtig, jetzt Halt und Struktur zu geben, sagt Karin Rauschenbach. "Die Stadt Freital muss sich etwas einfallen lassen. Die Jüngeren müssen in einen Kindergarten gehen, die Älteren in die Schule." Das könne die Tafel nicht alles leisten. "Vorgestern hatten wir hier 19 Kinder und es werden bestimmt bald noch mehr kommen. Keine Ahnung, wie wir das schaffen sollen."

Für die Kinderbetreuung erhält die Tafel viel Unterstützung. Zahlreiche Freitaler brachten Spielsachen, Bastel- und Schulmaterialien vorbei, die Papierfabrik spendete Papier. "Und trotzdem habe ich immer das Gefühl, es reicht nicht, wir müssten noch viel mehr machen, um den Kindern zu helfen", sagt Karin Rauschenbach. Am liebsten würde sie diesen "scheiß Krieg sofort beenden".

Die Kinder packen ihre Schulsachen zusammen, es geht raus auf den Spielplatz. Später wird es Mittagessen geben, Isabel hat Brühreis gekocht.