Grabstein mit erschütternder Geschichte

Von Matthias Schildbach
Tief verschneit steht ein einzelner Grabstein aus grauem Granit. Die Gräber zur linken und rechten sind vor Kurzem aufgelöst worden. Sie hatten nicht mehr als zwanzig Jahre überdauert. Dieses Grab schon. Es waren erst die Angehörigen, dann die Kreischaer, die diesen Stein über all die Jahre bewahrt haben. Denn die Geschichte, die dahinter steht, rührt jedes Mutterherz, jeden noch so abgebrüht im Leben Stehenden. Wenn Kindern davon erzählt wird, schweigen sie und hören gespannt zu; können das Ausmaß noch gar nicht begreifen.
In diesem Grab ruht Alfred Siegfried Berndt. Er durfte nicht einmal seinen fünfzehnten Geburtstag erleben. Geboren wurde er am 23. Juni 1930 in Kreischa. Alle kannten den aufgeweckten höflichen Jungen aus dem Dorf. Und alle waren stolz, dass es einer von „Ihnen“, einer aus Kreischa war. Denn Siegfried war Kruzianer. Er sang mit einer wundervoll reinen Altstimme im weltberühmten Dresdner Kreuzchor und war Schüler an der Kreuzschule am Georgplatz in Dresden.

Sein Vater hatte als Lagerist und Grünwarenhändler nicht gerade den großen Sinn für die schönen Künste. Die Mutter Helene, geborene Hänel, war ebenfalls Tochter eines Materialwarenhändlers in Kreischa. In ihrer Jugend war sie eine zeitlang Haustochter in Dresden gewesen. Sie hatte in wohlhabenden Familien die Haushaltsführung übernommen und dort in gutbürgerlichen Kreisen Kontakt zur Musik und den Künsten erlebt. Sie war es wohl gewesen, die mit dem damaligen Kreischaer Pfarrer Karl Krause und dem Kantor Wächtler Siegfrieds Weg geebnet hatte. Sein Talent war rechtzeitig entdeckt und gefördert worden.
Siegfried wuchs in den Kriegsjahren heran. Für ihn war es alltägliche Übung, neben dem Schönen der Welt, der Musik, auch mit dem Terror des Krieges umgehen zu lernen. Als am Abend des 13. Februar 1945 die Sirenen der Stadt anfingen zu heulen, begaben sich die Kruzianer in die Keller der Kreuzschule. Sie hatten sich am Abend auf eine Deutsch-Klausur am nächsten Tag und Chorproben für die Vesper, die am 17. in der Kreuzkirche stattfinden sollte, vorbereitet. Gegen 22 Uhr fielen die ersten Bomben.

Die Jungen ertrugen tapfer und erduldeten ruhig, was sie nicht ändern konnten. Ab und an waren Angstschreie zu hören, wenn eine Bombe nahe am Gebäude detonierte. Nach einer halben Stunde endete die erste Angriffswelle. Die Jungen stiegen aus den Kellern. Die Schule stand in Flammen. Sie mussten mit ansehen, wie sich das Feuer allmächtig vorarbeitete und Bibliothek, Chorarchiv, den großen Gesangssaal und die Alumnatsräume erfasste.
Die Schüler waren gefangen im Gebäude. Der einzige Weg nach draußen durch das Hauptportal war verschüttet. Sie mussten zurück in den Keller. Erwachsene versuchten, einen Durchgang zu den dahinterliegenden öffentlichen Luftschutzkellern freizugraben. Einige verließen das Gelände und suchten ihr Glück draußen in der brennenden Stadt. Andere blieben, sie zogen die noch intakten Gewölbe der Luftschutzkeller dem Flammenmeer vor. Dann begann der zweite Angriff. Ab 1.23 Uhr fielen wieder Bomben. Die Kruzianer erlebten diesen Angriff viel näher und zerstörerischer. Wände barsten, Druckwellen betäubten die Ohren, der Qualm des Feuers wurde immer erstickender.
Erstickt im Kohlenmonoxid
Trotzdem klagte keiner, sie hockten schweigend und warteten, warteten … Der Tod kam nicht gewaltsam. Er kam leise und unsichtbar. Hochgiftiges Kohlenmonoxid verbreitete sich im Keller. Die Opfer schliefen ein und versanken im tödlichen Schlaf.
Am Morgen des 14. Februar wurde der Keller geöffnet. Wenige atmeten noch, viele waren nicht mehr am Leben. Aus der Stadt zurückgekehrte Kruzianer halfen beim Bergen. Sie trugen die Leichname ihrer toten Mitschüler hinaus. Vierzehnjährige. Gestern noch übten sie gemeinsam im Chor. Eine Nacht später gab es keinen Chor mehr. Keine Kreuzschule, keine Kreuzkirche. Und kein Dresden.
In Kreischa verzweifelte die Mutter Helene Berndt nach der erlebten Nacht aus Sorge um ihren Jungen. Mit dem Fahrrad kämpfte sie sich entgegen dem aus der Stadt fliehenden Menschenstrom bis zur Kreuzschule. Vor dem Theodor-Körner-Denkmal lagen die Toten. Sie sah unter die Decken und Mäntel – und fand ihren Jungen. Siegfried war warm, er lag da wie bewusstlos. Sie rüttelte an ihm, rief ihn an, versuchte, ihn aufzurichten. Oder war es doch nur der Widerschein vom Feuer, der ihn warm erscheinen ließ?
Lange saß sie da in ihrer Verzweiflung, ihren toten Jungen zärtlich im Arm wiegend und konnte nicht fassen, was geschehen war. Ein Tscheche, der sie um etwas zu Essen ansprach, half ihr schließlich, Siegfried in einen herumliegenden Wäschekorb zu legen. Auf dem Fahrrad balancierte sie den mehr als fünfzig Kilogramm wiegenden Korb mit Siegfried durch die Trümmerlandschaft. Es war ein endloser, letzter Weg, der letzte unfassbare Dienst, den die Mutter für ihren Siegfried tun konnte. Sie holte ihren Jungen nach Hause.
Das Leid der Familie Berndt steht für das Leid abertausender Familien. Welche Zukunftsvisionen, welche Hoffnungen wurden mit einem Wimpernschlag der Geschichte, durch Menschen entfacht, zerstört? Es überschreitet das Vorstellbare, was Menschen einander antun konnten.
Siegfried Berndts Geschichte soll auch zukünftigen Generationen erzählt werden. Kreischas Kirchgemeindevertretung möchte ihren Beitrag gegen das Vergessen leisten. Das Grab soll künftig als Kriegsgräberstätte anerkannt und damit dauerhaft bewahrt bleiben.